Liebe Geschwister, ich glaube, wir haben heute die kürzeste Predigt aller Zeiten gehört. Jesus Christus hat die Schrift gelesen, also gewissermaßen den Predigttext, und nachdem er die Schrift aus der Hand gegeben hat, sagt er:
Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren. (Lukas 4, 21)
58 Zeichen inklusive Leerzeichen. Alles, was danach kommt, ist gewissermaßen ein Predigtnachgespräch.
Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren. (Lukas 4, 21)
Das ist jetzt rund 2000 Jahre her. Seit genau der Zeit leben wir in dem Wissen, dass mit Jesus Christus das Wort Jesajas erfüllt ist:
»Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.«
Lukas 4, 18-19
Doch was ist daraus geworden? Wir haben Arme – da müssen wir nur mit offenen Augen durch den Ort gehen und freitags mal bei der Tafel vorbeischauen. Wir haben Gefangene, Menschen, die in ihrer Seele gefangen sind, Menschen, die in Kriegsgefangenschaft sind, Menschen, die in ihren eigenen Verstrickungen gefesselt sind, Menschen, die in Zwängen gefangen sind, die in Systemen der Unfreiheit gefangen sind. Und wir haben Blinde. Aber die meisten Blinden sind nicht die, die mit einem Führhund durch die Fußgängerzone gehen oder die drei schwarzen Punkte auf gelben Grund am Revers tragen, sondern diejenigen, die blind sind für die Gemeinschaft, blind für den Nächsten, die rücksichtslos durch die Fußgängerzonen dieser Welt gehen.
Und vor allem: Was ist aus dem Gnadenjahr geworden? Im fünften Buch Mose heißt es, dass in Israel den Angehörigen des eigenen Volkes in jedem siebten Jahr die Schulden erlassen werden sollen und hebräische Sklaven freigegeben werden. Darüber hinaus musste der Landbesitz, den ein Angehöriger des Volkes aus einer Notsituation heraus verkaufen musste, seinem ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben werden. Der Hintergrund dieser Regelung war, dass das Land eine Gabe Gottes an sein Volk ist, dass er ihm nach dem Auszug aus Ägypten geschenkt hatte. Das bedeutet, dass dieses Land nicht veräußerlich war. Daher sollte mit diesen Regelungen die ursprüngliche Besitzordnung wiederhergestellt werden.
Und wenn Jesus nun ausgerechnet diesen Jesaja Text zur Grundlage seiner Predigt macht, bedeutet es, dass mit ihm das Gnadenjahr des Herrn angebrochen ist und damit auch das Reich Gottes.
Das bedeutet nichts anderes, als dass wir heute mitten im Reich Gottes leben, es uns aber wahrscheinlich nicht mehr so bewusst ist. Und damit bin ich wieder am Anfang angekommen. Wir leben, auch wenn es sich nicht danach anfühlt, seit 2000 Jahren damit, dass das Jesaja-Wort in Jesus Christus erfüllt ist.
Was aber ist daraus geworden? Jesus hat uns mit seinem Leben, seinen Worten, seinen Gleichnissen und seinem Handeln unsere Augen geöffnet. Wir müssen nicht blind durch die Welt gehen. So wie er dem Blinden, den er geheilt hat, gesagt hat: „Dein Glaube hat Dir geholfen.“ So hilft uns auch heute noch der Glaube, zu sehen und zu erkennen und vor allem zu handeln.
Und durch seinen Tod hat uns Jesus Christus von den Verstrickungen der Sünde befreit. Wir sind also wieder frei, weil er uns die Freiheit wiedergegeben hat. Aber was haben wir daraus gemacht?
Wir haben uns unsere eigenen Gefängnisse gebaut, haben uns selbst freiwillig in diese begeben, sind Gefangene unserer selbst geworden.
Jakobus – dem man nachsagt, dass er der leibliche Bruder Jesu sei – stellt in seinem Brief die Frage:
Was ist euer Leben?
Jakobus 4, 14
Was ist unser Leben? Ein Tag wie heute, dem ersten Tag eines neuen Jahres, ist eine gute Gelegenheit, sich diese Frage zu stellen.
Ja, Jakobus hat vollkommen recht. Wir wissen nicht, was morgen sein wird. Und ja, es stimmt, wir sind wie Dunst, der nur eine kleine Zeit bleibt und dann verschwindet. Ich finde, damit hat er wunderbar die klassische Ausrede der Menschen aufgenommen: „Was soll ich schon ausrichten können?“
Das kann man machen. Aber Jakobus powert, macht Mut, motiviert:
Dagegen solltet ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun.
Jakobus 4, 15
Das klingt nicht nur selbstbewusst, sondern das ist auch selbstbewusst. Und wisst Ihr, was das Verrückte daran ist? – Es ist genau das Selbstbewusstsein, das uns der Glaube schenkt.
Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun.
Das ist der Moment, in dem wir sehend werden. Das ist der Moment, in dem wir unsere Fesseln ablegen, das ist der Moment, wo wir frei werden und spüren, dass noch immer gilt, was Jesus einst in der Synagoge zu Nazareth gesagt hat:
Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.
Lukas 4, 21
Lasst uns in diesem Bewusstsein in das neue Jahr gehen und uns ganz bewusst auf Gott einlassen. Das wird uns und die Welt um uns herum mehr verändern, als wir heute vielleicht glauben.
Amen.
Pfarrer Martin Dubberke, Predigt über Lukas 4, 16-21, Perikopenreihe V, am Neujahrstag 2023 in der Johanneskirche zu Partenkirchen