Und das Volk stand da

Kreuzigung Jesu - Ausschnitt aus einem Kirchenfenster in der Johanneskirche zu Partenkirchen
Bildrechte Martin Dubberke

Liebe Geschwister, Jesus Christus ist tot. Er ist für unsere Sünden am Kreuz gestorben, in das Reich des Todes hinabgestiegen.

„Das war’s. Nun ist der ganze Spuk vorbei und wir können wieder weitermachen, wie bisher. Unser Plan ist aufgegangen. Aus der Ecke droht uns keine Gefahr mehr.“ So haben vielleicht die Hohenpriester gedacht.

So denken auch heute noch manche Menschen, wir selbst oder Menschen, die politische Verantwortung wahrnehmen, die jemanden mundtot machen wollen, jemanden aus dem Wege räumen wollen, um unbeschadet so weitermachen zu wollen und zu können, wie sie es immer schon getan haben.

Aber die Geschichte Jesu zeigt, dass das ein Irrtum ist. Es ist den Hohenpriestern nicht gelungen, Jesus zum Verstummen zu bringen. Sein Wort wirkt noch heute. Sein Handeln ist auch heute noch den Menschen Vorbild, Orientierung. Noch immer folgen ihm die Menschen, und das nicht wie früher im kleinen Israel, sondern weltweit. Da kann auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zahl der Kirchenmitglieder immer geringer wird.

Die Hohenpriester haben damals, als sie dafür sorgten, dass Jesus in einem öffentlichen Prozess zum Tode verurteilt wurde, die Rechnung ohne Gott gemacht. Sie haben auf ihre eigene Macht vertraut, die Erfahrung ihrer Macht und die Wirkung ihrer Macht. Dabei bedienten sie sich aber nicht der Fakten, sondern dessen, was wir heute alternativer Fakten nennen. Sie wollten auch die Hoheit über die Worte, die Formulierungen, die Terminologie behalten. Als Pilatus auf die Kreuzestafel schreiben ließ „Jesus von Nazareth, der Juden König“, wollten die Hohenpriester, dass er die Inschrift in der Weise ändern möge, dass Jesus selbst gesagt hätte „Ich bin der Juden König.“ Doch Pilatus antwortete: „Ich habe geschrieben, was ich geschrieben habe!“

Die Hohenpriester wollten Jesus also nicht nur zum Verstummen bringen, sondern auch noch das Wording bestimmen. Aber ausgerechnet die Demonstration ihrer Macht wurde zu einer Demonstration ihrer Ohnmacht, denn die Hohenpriester scheiterten mit der Ermordung Jesu vor aller Augen.

Und dennoch, versuchen auch heute noch Menschen mit den gleichen Methoden ihre Macht zu wahren und auszubauen. Und ohne, dass ich ihre Namen nennen muss, wisst Ihr, wen ich alles meine. Doch die Geschichte und nicht zuletzt unser Glaube an Jesus Christus haben immer wieder deutlich gemacht, dass diese Menschen am Ende immer scheitern, weil sie die Rechnung ohne Gott gemacht haben, ja noch schlimmer, ihn auf ihre Seite ziehen zu können meinten.

Und genau vor diesem Hintergrund finde ich den unscheinbaren ersten Satz in Lukas 23, 35 so spannend:

Und das Volk stand da und sah zu.

Da steht nicht: Sie machten mit. Das Volk kann alles sehen, denn es geschieht – wie auch heute – vor aller Augen. Das Volk sah, wie die Oberen Jesus, der schon am Kreuz hing, verspotteten. Sie wurden zu Zeugen. So wie wir heute auch zu Zeugen werden.

Es steht dort aber auch zugleich nichts über ihre Reaktion. Niemand ging dazwischen. Niemand ging zum Kreuz und versuchte Jesus zu retten. Sie blieben alle in ihrer Beobachterposition. Niemand widersprach, als die Oberen und die Soldaten Jesus feige am Kreuz verspotteten. Auch das kennen wir heute noch immer. Das Volk sieht zu und handelt nicht. Ein Volk, das nicht verhindert, wird zum Mittäter.

Das ist die eine Perspektive auf diesen schlichten Satz. Aber zugleich ist dieser Satz

Und das Volk stand da und sah zu

wie ein Doppelpunkt, denn nun geschehen die entscheidenden Momente bis Jesus stirbt. Dazu gehören nämlich nicht nur der Spott und die Verhöhnung Jesu durch die Oberen und die Pharisäer, sondern auch das, was zwischen den beiden Mitgekreuzigten und Jesus geschieht. Während der eine in die Verspottung einstimmt:

Bist du nicht der Christus?
Hilf dir selbst und uns!

Reagiert der andere Mitgekreuzigte diesen zurechtweisend:

Fürchtest du nicht einmal Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan.

Ausgerechnet, der Straftäter, der selbst am Kreuz hängt, reagiert unter den Schmerzen seiner grausamen Strafe, in der Hitze am Kreuz hängend. Ausgerechnet er erkennt, was hier wirklich passiert und artikuliert das auch vor aller Öffentlichkeit. Er nennt das Unrecht beim Namen, nicht das Volk, das das steht. Und er macht noch etwas anderes: Er zeigt den Unterschied zwischen Recht und Unrecht durch Einsicht auf, indem er öffentlich und vor Jesus bekennt, dass er selbst zu Recht verurteilt worden ist und seine Strafe verdientermaßen erhalten hat. Und solche Einsicht verbindet er mit der Bitte:

Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!

Und Jesus reagiert darauf mit seiner letzten Kraft:

Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.

Der Einsichtige wird nicht in die Verdammnis eingehen, sondern in das Paradies. Noch mit dem letzten Atem, seiner letzten Lebenskraft, zeigt Jesus vor versammelter Öffentlichkeit was im Zentrum seiner Botschaft steht: Die Umkehr, die Einsicht in das eigene schuldhafte Verhalten und damit die Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln, das Erkennen, dass der Weg, den Jesus Christus uns vorgelebt hat, der Weg in die Zukunft, der Weg in das Leben eines friedlichen Miteinanders und damit der Freiheit ist.

Noch einmal hat Jesus seine Botschaft öffentlich vor aller Welt verkündigt.

Und diese Verkündigung löst eine Reaktion beim Volk aus:

Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um.

Da haben wir das „mea culpa, mea maxima culpa“ – Durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld. – Das Volk hat das Unrecht, dessen sie Zeugen geworden sind, als Unrecht erkannt und auch die eigene Schuldverstrickung. Und so wird der Gang von Golgatha weg nach Hause zu einem Bußgang, zu einem Gang der Umkehr. Die Botschaft des Kreuzes ist damit angekommen: Kehrt um! Fangt ein neues Leben an! Orientiert Euch an dem, was ich Euch gesagt und gelehrt habe, denn es gilt auch über meinen Tod hinaus!

Es war aber nicht nur das Volk als Zuschauer vor Ort, sondern auch seine Bekannten und die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, sahen das alles aus der Ferne. Sie waren keine Zuschauer, sondern Beobachter. Auch sie sahen, wie die letzten Worte Jesu das Volk in Bewegung setzten, und das war gut so. Denn es war für seine Anhänger von fundamentaler Bedeutung, zu erleben, dass die Sache Jesu nicht vorüber war. Sie haben es vielleicht nicht sofort verstanden, aber die Beobachtung, dass das Volk aus der Situation von Golgatha heraus den ganzen Ernst des Geschehens erkannt hat und unter dem Zeichen der Buße in einer ersten Ahnung dessen, was Jesu Tod ihrem Volk einbringen wird, in die Stadt zurückkehrt, macht deutlich, dass die Sache Jesu weitergehen wird, auch wenn er jetzt tot ist.

Es wird kein einfaches für sie sein und werden, die Lehre Jesu dem Volk nahezubringen. Sie werden auf Widerstände stoßen, müssen der Stärke ihres Glaubens vertrauen, es wird aber nicht unmöglich sein, etwas zu bewegen. Auch das hat Jesus denen, die von Ferne als Bekannte Jesu alles beobachtet haben, vom Kreuz aus deutlich gemacht. Sonst säßet Ihr heute nicht in dieser Kirche und ich würde nicht zu Euch predigen.

Auch heute sehen wir noch immer zu. Und Golgatha, die Schädelstätte, hat viele Namen: Mali, Syrien, Afghanistan, Jemen, Klimakatastrophe, Wirtschaft, Wohlstand auf Kosten anderer, Hunger und nicht zuletzt Ukraine.

Und ich frage mich, wann wir uns endlich auf die Brust schlagen und vor aller Öffentlichkeit umkehren. Denn noch immer gilt: „mea culpa, mea maxima culpa“ – Durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld. – Sich das in allen Dimensionen vor Augen zu halten und darüber nachzudenken, um sich in der Osternacht auf den rechten Weg zu begeben, ist Karfreitag der richtige Tag.

Amen.

Pfr. Martin Dubberke
Bildrechte Johannes Dubberke

Pfr. Martin Dubberke, Predigt über Lukas 23, 32-49 Perikopenreihe IV
am Karfreitag 2022, den 15. April 2022,
in der Johanneskirche zu Partenkirchen

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