Liebe Gemeinde, „Krisen, Krieg und Katastrophen – mit diesem Dreiklang lässt sich wohl am ehesten die gegenwärtige (welt-)politische Lage umschreiben. Schon die Pandemie hat wie in einem Brennglas Unwuchten und Handlungsbedarfe offengelegt, die vielfach schon davor vorhanden waren. All das verschärft sich gerade durch die multiplen Krisen dieser Zeit, was bei vielen zu Ohnmachtserfahrungen, Kurzatmigkeit und Verdrängungsprozessen führt. Wir alle brauchen Balsam für die Seele.“
Mit diesen Sätzen sind wir Pfarrerinnen und Pfarrer kürzlich eingeladen worden zu einer Fortbildung. Die Ankündigung macht mich neugierig. Seelenbalsam in einer Zeit, die belastend und bedrückend ist für viele. Linderung, Wohltat, Aufmunterung – in diesen Tagen, an denen vieles uns das Herz schwermacht: Krieg, Klimawandel, Energiekrise …. Es ist ja wirklich die Frage: Was kann da helfen? Wie können wir zurückfinden zu Lebensfreude, Kraft und Optimismus?
Unser heutiger Predigttext scheint mir wie eine Antwort auf diese Fragen. Ich lese aus dem Epheserbrief im 5. Kapitel, die Verse 15 bis 20:
Seht sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht als Unweise, sondern als Weise, und kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse. Darum werdet nicht unverständig, sondern versteht, was der Wille des Herrn ist. Und sauft euch nicht voll Wein, woraus ein unordentliches Wesen folgt, sondern lasst euch vom Geist erfüllen. Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen und sagt Dank Gott, dem Vater, allezeit für alles, im Namen unseres Herrn Jesus Christus.
Wir ahnen es schon beim ersten Hören: Einfach war die Zeit nicht, in der diese Worte aufgeschrieben wurden. An der Schwelle vom ersten zum zweiten Jahrhundert nach Christus hatten die jungen Christengemeinden gewaltig zu kämpfen. Anfangs, als sie Christen geworden waren, waren sie ja noch sicher gewesen, dass Christus bald wiederkommen, alles neu machen und sein Friedensreich aufrichten würde. Inzwischen hatte sich Realismus breitgemacht. Die Menschen merkten: Glaube heißt nicht, täglich mit dem anbrechenden Gottesreich zu rechnen, sondern Glaube heißt, sich mit seiner Beziehung zu Gott in den Gegebenheiten der Welt zurechtzufinden und einzurichten.
Äußerlich waren die Verhältnisse damals durchaus gut: das römische Reich war wirtschaftlich stark. Infrastruktur, Bildung, Lebensstandard – alles stimmte. Aber der Friede, auf den Rom sich gründete, hatte einen hohen Preis: Bedingungslos hatte man sich dem Herrschaftssystem unterzuordnen. Wie ein Gott ließ der Kaiser sich verehren. Alles hatten die Menschen ihm zu geben, nicht nur Geld, Steuern, Land und Dienstleistungen, sondern auch ihr Innerstes: ihren Glauben, ihre Kultur, ihr Denken. Die Pax Romana war ein Friede, der aufgebaut war auf gewaltsamer Unterwerfung und auf der Arroganz einer Macht, die niemand anderen gelten ließ. Dem Kaiser Opfer bringen, ihn anbeten, keinem anderen Herrn dienen außer ihm. Totalitarismus pur. Wer da nicht mitspielen wollte, stand in Lebensgefahr.
Die Tage sind böse, schreibt der Autor des Epheserbriefes. Kein Wunder. Wenn man im Geheimen zusammenkommen muss, in den Katakomben. Wenn man seinen Glauben verstecken soll und immer wieder vor der Frage steht: Darf ich überhaupt sprechen über das was mich innerlich bewegt? Oder werde ich verraten, entdeckt, weggesperrt, gefoltert oder gar getötet?
Fragen, wie sie Oppositionelle auch heute stellen. In Russland. In China. Im Iran. Die Freiheit, zu denken, zu sagen, zu schreiben, zu glauben was man will, diese Freiheit ist auch zweitausend Jahre nach dem Epheserbrief noch keineswegs selbstverständlich. Böse Tage, in der Tat. Tausende bezahlten und bezahlen bitter dafür.
Aber was hilft nun eigentlich? Was ist der Seelenbalsam, den der Epheserbrief für solche Zeiten anbietet? Ich finde beim genauen Lesen fünf Zutaten, fünf Heilkräuter in diesem Balsam. Die möchte ich Ihnen jetzt nennen:
1.
Seht sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht als Unweise, sondern als Weise, und kauft die Zeit aus. Carpe Diem. Nutze den Tag, kaufe die Zeit aus. Gehe sorgsam und wach um mit jedem Tag, der dir geschenkt ist. Das hieße Weisheit. Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden, so heißt es in einem Psalm. Klugheit und Weisheit haben also offenbar genau damit zu tun, dass wir uns unserer Vergänglichkeit bewusstwerden. Nein, das Leben ist nicht selbstverständlich, nie. Auch nicht an guten Tagen. Aber die bösen Tage, an denen alles zerbrechlich und fragil ist, die machen es uns erst recht bewusst: Unsere Zeit ist begrenzt. Hieße das nicht: Beziehungen in den Vordergrund stellen? Miteinander reden, einander treffen, analog unterwegs sein, nicht nur digital? Die Fernsehcouch verlassen und all die Ablenkungen, die uns angeboten werden und tun, was gut und richtig ist und was anderen hilft? Seht sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt! Sorgfältiger Umgang mit der Zeit, ein weises Nutzen der Lebensspanne, die uns geschenkt ist. Das ist die erste Zutat im heilsamen Balsam.
2.
Nun folgt der zweite Tipp:
Darum werdet nicht unverständig, sondern versteht, was der Wille des Herrn ist.
Also: nach Gott fragen. Nicht nur auf Menschen schauen, auf politische Konzepte, nicht nur Nachrichten hören und Talkshows konsumieren. Sondern immer wieder fragen: Was will eigentlich Gott? Was will er heute von mir? Wie kann ich – mit meinen begrenzten kleinen Möglichkeiten – dennoch dem Höchsten dienen? Was soll ich tun, damit mehr Wahrheit, mehr Liebe, mehr Hoffnung und Vertrauen in diese Welt kommt? Was ist meine Lebensaufgabe?
Da gibt es natürlich so viele verschiedene Antworten, wie wir verschieden sind. Jeder und jede von uns wird da eine eigene Antwort finden. Kinder fröhlich erziehen, für einen alten Menschen da sein, sich einsetzen für die Natur und den Artenschutz, freundlich mit Menschen umgehen …. Das sind nur ein paar kleine Beispiele. Ich glaube aber, genau die Kleinigkeiten können uns erfüllen und unserem Leben Sinn geben. Versteht, was der Wille des Herrn ist.
3.
Jetzt weist uns der Autor darauf hin, dass Sucht Flucht ist: Sauft euch nicht voll Wein, woraus ein unordentliches Wesen folgt, sondern lasst euch vom Geist erfüllen. Ja, die Versuchung, den Verlockungen von Rauschmitteln nachzugeben, ist in schwierigen Zeiten noch größer als normalerweise: Während der Coronapandemie haben Alkohol-, Drogen- und Tablettenkonsum aber auch die Spielsucht am Computer deutlich zugenommen. Sich zudröhnen gegen Angst, Einsamkeit oder Sinnkrisen, das war schon immer eine große Versuchung für Menschen. Da gerät jedoch die innere Ordnung durcheinander. Es tut dem Menschen nicht gut.
Der Epheserbrief schlägt als Alternative vor: Lasst euch vom Geist erfüllen. Den Geist Gottes muss man nicht suchen, nicht verkrampft herbeibeten oder zwingen. Man muss sich nur öffnen für ihn. Er weht, wo er will. Und manchmal trifft uns sein Hauch, sein lebendiger Atem. Dann staunen wir, was alles möglich ist. Das kann auf verschiedenste Weise geschehen – und es wäre jetzt ein tolles Gespräch, sich darüber zu unterhalten, was das heißt: Lasst euch vom Geist erfüllen! Für mich ist das in erster Linie geglückte Kommunikation. So wie der Geist in der Pfingstgeschichte über die Menschen kam und ihnen das Verstehen über alle Sprach- und Kulturgrenzen hinweg ermöglicht hat, so kann er auch heute wirken, im Verstehen von Menschen. In gelingenden Gruppenprozessen. In erfolgreichen politischen Verhandlungen. In einer liebevollen Versöhnung. Oder beim Lesen eines Buches, das uns tief anrührt. Geglückte Kommunikation. Das ist vielleicht die höchste Form von Spiritualität. Wer sie praktiziert, braucht keine Suchtmittel mehr.
4.
Nach dem Geist folgt nun die vierte Zutat im Seelenbalsam. Das ist, man höre und staune, die Musik: Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen. Das ist nun etwas Spielerisches, Leichtes. Gemeinsam singen, Musik machen, gemeinsam ein Konzert hören und sich von der Musik ergreifen und wegtragen lassen, was hat das für heilsame Kräfte. Musiktherapie wird uns da sozusagen ans Herz gelegt. Die Bibel berichtet an verschiedenen Stellen davon, wie heilsam Musik sein kann. Eindrücklich wird z.B. geschildert, wie es David als kleinem Hirtenbuben gelingt, den alten, depressiven König Saul wieder aufzuheitern. Ich kann das so gut nachvollziehen. Es tut so gut, in einem Ensemble mitzuspielen, in einem Chor zu singen, mit den Enkelkindern Kinderlieder zu trällern oder im Gottesdienst gemeinsam vertraute Choräle zu singen. Zieht euch nicht runter durch immer neues Jammern, Nörgeln und Klagen, sondern ermuntert einander, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen.
5.
Und schon sind wir bei der letzten Zutat angelangt. Die heißt schlichtweg: Dankbarkeit: Sagt Dank Gott, dem Vater, allezeit für alles, im Namen unseres Herrn Jesus Christus. Gott Danke sagen, für alles sogar, wenn es einem doch eigentlich schlecht geht und man Grund zum Klagen oder zum Bitten hätte - wie soll das denn bitte funktionieren?
Es funktioniert! Ich mache das seit Jahren, jeden Tag. Den Tipp habe ich von der großen Theologin Dorothee Sölle. Sie gab uns in einem Vortrag einen wunderbaren Rat für die einfachste und zugleich beste geistliche Übung überhaupt: Jeden Tag abends drei Dinge bedenken – oder noch besser, aufschreiben – für die man an diesem Tag dankbar sein kann: eine nette Begegnung, ein golden leuchtender Herbstbaum, der herrliche Duft beim Betreten einer Bäckerei. Oder, oder, oder … Jeden Tag findet man solche Dinge, auch an bösen Tagen. Nur sein Herz muss man öffnen dafür. Und das lässt sich tatsächlich einüben. Machen Sie das mal eine Zeitlang. Sie werden merken, Ihr Blick aufs Leben verändert sich. Die Grundhaltung der Dankbarkeit verwandelt uns. Sie lässt uns das Glas halb voll, nicht mehr halb leer sehen. Sie schenkt uns Lebensfreude und Begeisterung, selbst in Zeiten, die alles andere als leicht sind.
Liebe Schwestern und Brüder, damit wäre nun unser Seelenbalsam zusammengemixt. Aus den Ingredienzien Sorgfalt, Verstehen, Spiritualität, Musik und Dankbarkeit. Uns verschrieben von Gott selbst, der uns sagt: Ich bin der Herr, dein Arzt (Ex 15,26). So sprach er einst zu Mose, als es darum ging, die Israeliten aus der Sklaverei Ägyptens zu befreien. Und so spricht Gott auch heute zu uns in den Bedrängnissen unserer Zeit: Ich bin der Herr, dein Arzt. Einen Arzt muss man freilich aufsuchen, man muss ihm die Stellen zeigen, die weh tun und man muss offen erzählen, damit er helfen kann.
Heute hat uns dieser Arzt das Rezept für unseren Seelenbalsam aufgeschrieben. Nun müssen wir sein Heilmittel nur noch abholen und anwenden, nicht etwa luftdicht abgeschlossen in der Dose aufbewahren, sondern nutzen. Dick auftragen, sein Aroma tief einatmen, seine Heilkraft wirken lassen und genießen. Und Gottes Friede, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn und Arzt. Amen.
Pfarrerin Uli Wilhelm
„Seelenbalsam“ Predigt am 16.10.2022 (18. Sonntag nach Trinitatis) in der Heilandkirche Oberau, Predigttext: Eph 5,15-20