Liebe Gemeinde! Volkstrauertag 2022. Wir gedenken heute der Opfer von Kriegen und Gewalt. Nicht nur der Opfer, die auf unseren deutschen Kriegsdenkmälern stehen, sondern auch der Opfer anderer Kriege. Der Unterschied heuer: Der Krieg ist nahe gerückt, seit dem 24. Februar. Seit Russland die Ukraine überfallen hat, herrschen mitten in Europa herrschen wieder Terror, Angst, Zerstörung, Gewalt. Täglich zeigt der Krieg seine hässliche Fratze. Die Bilder und Nachrichten aus der Ukraine gehen uns nahe. Manchmal so, dass man sie kaum mehr erträgt. Aber was tun? Wie diesen unsäglichen Krieg stoppen? Waffenlieferungen scheinen im Moment die einzige Lösung zu sein. Politiker*innen, die früher für ihre pazifistische Haltung bekannt waren, treten seit Neuestem massiv dafür ein. Von Waffenstillstand, Gesprächen oder Friedensverhandlungen redet kaum noch jemand. Auch unsere Evangelische Kirche in Deutschland hat diese Woche auf ihrer Synode in Magdeburg ihre Friedensethik neu diskutiert: Mit einer Solidaritätsbekundung für die Ukraine ist am Mittwoch die Synode der EKD zu Ende gegangen, so las man in der Presse. Und weiter: Zum Abschluss seiner Jahrestagung vermied das Kirchenparlament allerdings eine Festlegung zu den innerkirchlich umstrittenen deutschen Waffenlieferungen.
Ja, Festlegungen werden vermieden, weil wir ratlos sind. Niemand hat wirklich eine Lösung. Vielleicht wäre das ein wichtiger Schritt, sich diese Ratlosigkeit erst einmal einzugestehen. Und dann: beten, wachen, den Menschen aus der Ukraine Solidarität zeigen, wie wir es seit inzwischen fünfunddreißig Wochen Woche für Woche machen bei unserer Mahnwache an jedem Mittwochabend um 18.30 Uhr in der Garmischer Fußgängerzone.
Denn das immerhin können wir tun: Für die Menschen da sein, die zu uns kommen, weil ihre Städte bombardiert, ihre Häuser zerstört, ihre Nachbarn ermordet werden. Aus blanker Angst sind sie hier. 1300 Geflüchtete aus der Ukraine in unserem Landkreis, davon 600 hier in Garmisch-Partenkirchen. 238 davon sind Kinder, zwischen 0 und 18 Jahren. Kinder, die nun nicht mehr in den vertrauten Kindergarten gehen, ihren Papa knuddeln, die ukrainische Schule besuchen oder ihre Ausbildung abschließen können. Kinder, die der Krieg herausgerissen hat aus ihrer früheren Geborgenheit. Alle, Erwachsene und Kinder, hoffen, dass sie bald wieder in ihr Land zurückkehren und dort neu anfangen können.
Auf diesem Hintergrund hören wir heute das Evangelium zum Volkstrauertag, das für viele altvertraute, oft gehörte Gleichnis „vom Weltgericht“. Mit biblischen Texten ist es freilich so, dass sie je nach Situation immer wieder neu sprechen. Heuer ist es ein Satz aus der Rede Jesu der mich besonders berührt: „Ich war fremd - und ihr habt mich aufgenommen. Darüber möchte ich heute mit Ihnen und Euch zusammen nachdenken.
Genau das erleben die Menschen aus der Ukraine gerade: Ich bin fremd. Ich muss mich irgendwie zurechtfinden, mit der Sprache, mir der Kultur, mit den Regelungen hier. Ich muss mich orientieren. Vor allem aber muss ich verarbeiten, was hinter mir liegt, muss zurechtkommen mit traumatischen Erlebnissen, mit meiner Angst, meiner Sehnsucht, mit den schrecklichen Nachrichten aus der Heimat. Ich bin fremd. Das heißt: ich fühle mich unsicher, unbehaust, auf wackeligem Boden.
Kennen Sie dieses Gefühl? Wann und wo haben Sie es denn schon einmal erlebt, fremd zu sein? Welche Erinnerungen steigen da in Ihnen auf?
Ein Bild aus der Kindheit vielleicht: in einer fremden Umgebung übernachten müssen, bei einer Tante, im Krankenhaus, zum ersten Mal im Schullandheim – das Herz voller Sehnsucht nach der Mama?
Oder: der Schüleraustausch. In der Gastfamilie nur die Hälfte verstehen, in einer fremden Stadt verlaufen?
Oder: zum ersten Mal eingeladen in der Familie des Partners. Alles so anders. Die Art, wie geredet wird, die Einrichtung, die Ansprüche.
Oder: sich fremd fühlen in der eigenen Familie. Den Partner nicht mehr verstehen, die Kinder, die sich immer weiter entfernen?
Manchmal sogar: sich selber fremd sein. Morgens, beim Blick in den Spiegel: Schau ich wirklich schon so alt aus? Oder wenn man im Nachhinein ein Verhalten an sich selbst nicht mehr gut findet und sich zerknirscht fragt: Warum hab ich das nur getan?
„Ich war fremd!“ In vielen Geschichten erzählt die Bibel von diesem Gefühl. Wir Menschen gehören zum wandernden Gottesvolk, sind immer nur Gast auf Erden, haben hier keine bleibende Stadt, sind stets in Bewegung und Veränderung:
Abraham und Sara müssen aufbrechen, ihre Heimat verlassen und in einem neuen Land heimisch werden. Das Volk Israel macht die Erfahrung des Fremdseins in Ägypten, verbunden mit allem, was dabei zu den ganz schweren Seiten gehört: Sie werden geknechtet, unterdrückt, ausgebeutet, haben kaum Rechte, sind Willkür ausgesetzt. Auch Jesus selbst muss mit seiner Familie fliehen vor Verfolgung und Gewalt in seiner Heimat – und geht schon als Kind in die Fremde, auf der Flucht nach Ägypten. Das ehemalige Land der Knechtschaft wird zum Land der Zuflucht. So etwas hat es ja immer wieder gegeben in der Geschichte.
Aus der Erfahrung, selber einmal fremd gewesen zu sein, erwächst die Mahnung: Behandle, die Menschen, die bei dir als Fremde ankommen gut. Lass sie bei dir keine schlechten, sondern gute Erfahrungen machen!
"Ich war fremd - ihr habt mich aufgenommen." Welche Dankbarkeit steckt in diesem Satz! Wenn da jemand ist, der einen sieht, der einen begrüßt, bei der Orientierung hilft, wie gut ist das! Klar, das Fremdsein ist zwar immer noch da, aber es verbindet sich mit dem Gefühl, dass das Leben in der Fremde trotz allem Schweren gelingen kann.
Fremd sein und Heimat suchen, das gehört zu jedem Leben, genauso wie die anderen grundlegenden Bedürfnisse: Essen, Trinken und Kleidung haben, bei Krankheit Hilfe erfahren, in schwierigen Zeiten nicht vergessen, sondern besucht werden.
Die Bibel öffnet uns hierfür neu die Augen. Diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, sagt sie nämlich, haben alle mit Gott zu tun. Was wir hier in der Welt tun, das reicht sozusagen bis in den Himmel hinauf. Wie wir hier auf der Erde miteinander umgehen, ist Gott nicht egal. Ob es unser Engagement ist oder unsere Gleichgültigkeit – Gott nimmt es persönlich: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Geschwistern, das habt ihr mir getan. Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. (Mt 25,40)
Dieser Abschnitt aus dem Matthäusevangelium hat später die Überschrift „Vom Weltgericht“ bekommen. Wie ein König und Richter, so die Vorstellung, wird der Messias einst seinen Platz einnehmen. Es gibt eine Gerichtsversammlung, an der alle Völker teilnehmen werden – ein ökumenisches Superereignis sozusagen.
Zur Vorstellung dieser Gerichtsversammlung kommt ein weiteres Bild, das stammt aus der Landwirtschaft: Der Hirte, der abends seine Herde trennt. Der große König Israels, David, war ja in seinem ersten Beruf auch Hirte. Womöglich klingt in diesem Bild etwas davon an, dass die Herrscher gleichzeitig Hirten der ihnen von Gott anvertrauten Menschen sein sollten? Jedenfalls wird erzählt, dass der königliche Richter handelt wie ein Hirte Alle, über die er zu Gericht sitzt, alle teilt er ein und unterscheidet in zwei Gruppen, in die Gruppe zu seiner Rechten, die Gesegneten, die das Reich ererben und in das ewige Leben kommen sollen und in die Gruppe zu seiner Linken, die Verfluchten, die in das ewige Feuer, zur ewigen Strafe kommen sollen.
Diese Einteilung wird begründet. In der Urteilsbegründung heißt es: „Ich war in Not und mir wurde von euch geholfen.“ Die einen haben gehandelt, einem Hungrigen zu essen gegeben; einem Durstigen zu trinken gegeben; einen Fremden aufgenommen; jemanden gekleidet, einen Kranken besucht; zu einem Gefangenen ins Gefängnis gegangen; die anderen haben solches Handeln unterlassen.
Beide Gruppen: die Gerechten und die Verfluchten sind nun komplett erstaunt. Überrascht fragen sie, warum sie zu der jeweiligen Gruppe gehören. Beide, die Gerechten wie die Verfluchten, waren sich während ihres Tuns gar nicht bewusst, dass sie an ihrem Herrn gehandelt oder nicht gehandelt haben. Sie wissen scheint‘s gar nicht mehr, wann sie so gehandelt oder nicht gehandelt haben.
Beide Gruppen erfahren nun, dass Christusbegegnung und die Begegnung mit den Menschen nicht voneinander zu trennen sind. Eine Begegnung mit Christus braucht die Begegnung mit anderen Menschen. Die Aussage der Geschichte ist klar und in ihrer Klarheit auch hart. Sofort kommen wir doch ins Überlegen: Wo würde ich wohl zugeordnet? Was würde mehr wiegen, das was von mir getan wurde oder das Unterlassene? Wohin würde man mich stellen? Links oder rechts? Himmel oder Hölle? Flop oder Top?
Ich möchte diese Spannung und das Unbehagen gar nicht gleich abschwächen und auflösen, unser Text tut das auch nicht. Auch wenn sicher ist, dass diesem Abschnitt seit Jesu Tagen einiges zugewachsen ist und der Theologie des Matthäus entspringt. Unser Handeln oder nicht Handeln wird Folgen haben und die Härte liegt vor allem darin, dass die Strafe ewig und endgültig ist, so dass es kein Entrinnen mehr gibt. So hören wir es jedenfalls zunächst einmal.
Es stimmt schon: Gerade Situationen, in denen wir nicht oder falsch gehandelt haben, bleiben besonders in Erinnerung. Geht nicht unser Versagen in der Erinnerung mit und plagt uns oft lange? Treibt Fehlverhalten einen nicht um? Das Brennende und Bohrende und Strafende liegt doch auch darin, dass wir solche Situationen nicht mehr loswerden.
Irgendwie finden wir es ja doch auch ganz gerecht, dass gutes Verhalten belohnt, schlechtes bestraft wird. Oft genug ist es ja in unserem Alltag und Leben so, dass wir uns aufregen, wenn jemand „ungeschoren“, ohne Strafe davonkommt. Manchmal wünschen wir uns Gottes ausgleichende Gerechtigkeit - jedenfalls, wenn es um die anderen geht!
Das Matthäusevangelium sagt uns: Hilfreiche, barmherzige, gute Taten finden ihren Lohn, also macht sie nach! Gott schenkt uns reichlich Gelegenheit dazu. Ich war fremd - ihr habt mich aufgenommen. Wir versuchen das gerade in unserer Gemeinde:
Im Garmischer Gemeindehaus ist seit März eine Kleiderstube eingerichtet, in der geflüchtete Menschen sich holen können, was sie brauchen. Jeden Mittwoch wachen und beten wir für den Frieden – in der Öffentlichkeit, draußen, mit Kerzen, Stille, Liedern, Gebeten und Gedanken. Manche haben sogar Wohnraum zur Verfügung gestellt und Flüchtlinge bei sich aufgenommen. Kurz vor Weihnachten werden wir eine Adventsfeier für geflüchtete Menschen in unserem Gemeindehaus machen, damit sie ein wenig Wärme und Herzlichkeit spüren in diesen dunklen Zeiten.
Am Bibeltext beschäftigt mich freilich trotzdem noch das „Nichtwissen“ der Betroffenen und die Härte dieser ewigen Strafe, die so fremd ist gegenüber all dem Trostreichen, das wir von Jesus sonst wissen: Weder die Gesegneten noch die Verfluchten wissen doch überhaupt, warum sie so gehandelt haben.
Da hoffe ich auf eines: Der auf dem Richterstuhl sitzt und entscheidet, Christus, ist der, der sich selber auf die unterste Stufe der Menschheit gestellt hat, der uns Menschen durch und durch kennt. Deshalb hoffe ich, dass er nicht nur die guten oder die unterlassenen Taten in seine Waagschale werfen wird, sondern auch all das andere Menschliche: alle ernsthaften Bitten um Vergebung, alles Eingeständnis von Schuld, alles Anfragen um Kraft, alles Trauern um verkehrtes Handeln und alle Ratlosigkeit, die in diesen Tagen ja nicht nur die Politiker empfinden, sondern wir alle.
In dieser Welt teilen viele die Erfahrung, fremd zu sein. Jesus Christus aber hat in seinem Leben alle zu sich aufgenommen: die Fremden und die anderen, die Sünder und die, die vieles im Leben verbockt haben. Am Ende sogar den Schächer neben sich am
Kreuz. Es ist deshalb meine tiefe Hoffnung an diesem Volkstrauertag, dass wir – durch alles Gericht hindurch am Ende Geborgenheit finden bei Gott - und eine Heimat, die uns niemand mehr nehmen wird. Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen uns Sinne in Christus Jesus. Amen.
Pfarrerin Uli Wilhelm