Liebe Gemeinde! Wenn eine Zeit zu Ende geht, erlebt man die Dinge nochmal besonders intensiv. Der letzte Abend im Urlaub, der letzte Tag am Arbeitsplatz, bevor jemand die Stelle wechselt, der letzte Besuch bei einem Kranken, die letzten Worte eines Sterbenden. Wenn die Zeit begrenzt ist und uns das bewusstwird, sind unsere Sinne geschärft, wir prägen uns Dinge tief ein, letzte Worte erhalten ein ganz besonderes Gewicht. Vielleicht wird uns angesichts der begrenzten Zeit auch klar, dass wir noch etwas zu tun haben, etwas klären müssen oder richtigstellen, eine Entschuldigung aussprechen oder einen Dank. Irgendwann ist es zu spät. Dann ist es gut, wenn wir die Zeit genutzt haben, die uns geschenkt war.
Dieses Kirchenjahr geht zu Ende, zwei Wochen sind es nun noch bis zum ersten Advent. Und heute mahnt uns unser Predigttext, die Zeit auszunutzen, die uns bleibt, um Gutes zu tun, Menschen zu helfen, Nächstenliebe zu üben. Denn irgendwann, so macht Matthäus deutlich, irgendwann müssen wir alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi (2 Kor 5,10a). So lautet der Wochenspruch für diese vorletzte Woche im Kirchenjahr, den Paulus uns mitgibt, als nähme er Bezug auf dieses heutige Evangelium.
Wie ist das: Glauben Sie, glaubt Ihr an ein „Jüngstes Gericht“? „Von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten“, so sprechen wir‘s ja immer wieder so dahin im Glaubensbekenntnis. Aber denken wir noch darüber nach, was das heißt: „Jüngstes Gericht“?
Vermutlich geht es Euch und Ihnen ähnlich wie mir: Ich sehe Bilder vor mir, aus alten Kirchen oder auch Museen, da sitzt ein gestrenger Richter, manchmal mit goldenem Schwert im Mund, in der Mitte der Szenerie und teilt die Menschen ein: die einen, zu seiner Rechten, gehen, von Engeln geleitet, in eine goldene, strahlende Himmelswelt. Die zu seiner Linken aber werden verdammt und von Teufeln ins Feuer gezerrt. Himmel oder Hölle. Die Gerechten oder die Verdammten. Zwischentöne gibt es meistens nicht in solchen Darstellungen.
Dabei ist unsere Welt doch voller Zwischentöne, voller Übergänge, voller Unklarheiten. Wer könnte eindeutig sagen, dass er oder sie immer weiß, wo’s langgeht, was gerade die richtige Entscheidung ist, wie man sich verhalten soll? Oft ist die Verwirrung groß, im Kleinen wie im Großen.
Heute, am Volkstrauertag, gedenken wir der Opfer von Krieg und Gewalt. Jahrelang war dieses Gedenken ein Gedenken an die Vergangenheit. Wir haben zurückgeschaut und versucht, vernünftige Konsequenzen aus der Geschichte zu ziehen: „Nie wieder Krieg!“ lautete die Überschrift. Doch jetzt, seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, seit dem Terrorangriff der Hamas in Israel, sind ganz neue –oder soll ich sagen, ganz alte Töne neu zu hören: „Deutschland muss wieder kriegstüchtig werden“ fordert unser Bundesverteidigungsminister. Ehemals engagierte Mitglieder der Friedensbewegung machen sich nun plötzlich stark für mehr Waffenlieferungen und Abschreckung. Wo die Parole früher hieß „Frieden schaffen ohne Waffen!“ scheint sie jetzt plötzlich zu heißen „Frieden schaffen mit immer mehr Waffen!“ Ist das richtig? Ist das falsch?
Fragen dieser Art stellen sich derzeit besonders für den Nahen Osten: Das Existenzrecht und das Recht zur Selbstverteidigung Israels stehen auf der einen Seite, die entsetzlichen Bilder von den sterbenden Kindern in Gaza auf der anderen. Wer für die eine Partei spricht, steht sofort in Verdacht, die anderen zu vergessen oder zu diskriminieren. Das Gut der Meinungsfreiheit und der unbedingte Wille, dem Antisemitismus in Deutschland nie wieder Nährboden zu bieten, stehen einander mitunter kontrovers gegenüber. Selbst das letzte Woche groß angekündigte interreligiöse Friedensgebet in München musste abgesagt werden, weil alles derart kompliziert geworden ist. Stattdessen immer mehr Hass auf allen Seiten – und großes Schweigen. Überall scheinen Fettnäpfchen zu stehen, Fallen zu lauern und ständig geraten wir in Dilemma-Situationen.
Angesichts einer Lage, wie wir sie gerade in Israel erleben, kann scheinbar niemand schuldlos bleiben. Das ist so, wie es Paulus im Römerbrief beschrieben hat: Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. (Röm 7,14)
Ich stelle mir vor, dass das für manchen jungen Soldaten derzeit gilt. Ob in Israel, in der Ukraine, oder wo immer Menschen kämpfen für möglicherweise gute und richtige Ziele:
So schnell gerät man mitten hinein in eine tödliche Spirale aus Schuld und Verrohung.
Und kein Gericht der Welt, auch nicht ein internationaler Kriegsgerichtshof, wird es schaffen, am Ende tatsächlich Gerechtigkeit zu schaffen für Opfer und Täter. Manche werden übersehen, manche entwischen, manche kaufen sich frei – und, wie in jedem Krieg, bleiben viele zutiefst verwundet und traumatisiert zurück.
Die Vorstellung eines „Jüngsten Gerichts“ ja da geradezu etwas Entlastendes. Gott wird am Ende Rechenschaft verlangen. Vor seinem Richterstuhl muss alles offenbar werden, was Menschen einander angetan haben. Da kann nichts mehr verdrängt, versteckt oder verschwiegen werden. Und wann immer wir Menschen nicht mehr wissen, was eigentlich richtig ist und was falsch, ist es gut, Gott das letzte Urteil zu überlassen.
Doch wenn da einst ein Gericht sein wird, wenn Gott die Menschen zur Rechenschaft zieht, wie wird er all das dann wohl bewerten? Wen wird er zu den Böcken zählen und wen zu den Schafen, wer wird Gnade finden vor seinen Augen und wer nicht?
Erinnern wir uns an das Evangelium, was wir vorhin gehört haben. Da wird diese Frage heruntergebrochen auf ganz normale, elementare Lebensbedürfnisse: Essen und Trinken, als Fremder aufgenommen werden, Kleidung besitzen und auch als kranker oder gefangener Mensch, in Krisenzeiten also, nicht vergessen, sondern besucht werden. Diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, so der Evangelist, haben alle mit Gott zu tun. Was wir hier in dieser Welt, in unserem Leben tun oder eben unterlassen, das reicht sozusagen bis in den Himmel hinein. Wie wir hier auf der Erde miteinander umgehen, ist Gott nicht egal. Ob es unser Engagement ist oder unsere Gleichgültigkeit – der höchste Richter nimmt es in jedem Fall persönlich: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Geschwistern, das habt ihr mir getan. Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. (Mt 25,40)
Für mich heißt das: Ja, mein Handeln wird Konsequenzen haben. Ja, ich werde mich verantworten müssen vor meinem Gott. Und ja, das wird möglicherweise unangenehm werden, denn wie oft schaue ich weg, hab keine Zeit, keine Energie, keine Idee, wie ich helfen könnte. Wie oft siegt meine Ignoranz über mein Engagement. Und wie oft bin ich ratlos, was überhaupt richtig ist.
Aber eine Hoffnung entnehme ich der Heiligen Schrift: Dieser Richter hat nämlich einen Blick für die Verlorenen. Er bewertet uns nicht ausschließlich nach unseren Taten, sondern er schaut auch auf unser Herz, auf unsere Angst, auf unsere Sehnsucht. Er hat einen weiten und tiefgehenden Blick. Und er hat weite Arme, um alles Verlorene aufzufangen. Denken wir an die Geschichte vom Verlorenen Sohn. Da breitet der Vater seine Arme weit aus für den Heimkehrer, der so viel verbockt und falsch gemacht hat. Aber die Fehler zählen nicht in diesem Moment. Es zählt nur die Liebe.
Ich glaube, das wird so sein mit diesem Jüngsten Gericht, dass es unter dem großen Vorzeichen der Liebe steht. Dann wird das „Richten“ kein gnadenloses Verurteilen und Verdammen sein, sondern es wird ein „Richten“ im Sinne von „Reparieren“. Es wird ganz und neu und heil werden, was zerbrochen und zerstört war. Der Richter ist der große Reparierer. Wer etwas repariert, muss schon genau hinschauen, wo der Fehler steckt. Das wird Gott sicherlich tun. Klarheit schaffen, Licht ins Dunkel bringen, auch die ganz finsteren Ecken des Lebens ausleuchten. Verstecken und Verdrängen wird es dann für niemanden mehr geben. Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.
Der Theologe Wilfried Härle versteht das „Jüngste Gericht“ als „Aufrichtung von Gerechtigkeit und Wahrheit“. Über alle menschliche Verwirrung und alles Versagen hinaus, über alles Ringen über Richtig und Falsch, alle politischen Konzepte, alle gesellschaftlichen Gräben und Spaltungen, ja sogar über Gewalt, Krieg und Tod hinaus wird Gott eines Tages Gerechtigkeit und Wahrheit aufrichten. Das finde ich einen schönen und tröstlichen Gedanken, von dem ich mich immer wieder gerne aufrichten lasse in diesen wirren Zeiten.
Volkstrauertag. Ende des Kirchenjahres. Wir haben nicht mehr ewig Zeit. Aber wir sollten die Zeit, die uns bleibt, nutzen für ein Leben in Achtsamkeit, Versöhnung und Liebe.
Und der Friede Gottes, der allen Menschen gilt und der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Uli Wilhelm
Predigt am Volkstrauertag, 19.11.2023
in Farchant und Partenkirchen
Predigttext: Mt 25, 31-46/ 2 Kor 5,10a
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