Liebe Gemeinde, starke Frauen gibt es viele. Auch in der Bibel. Eva, Sara, Rebekka, Hanna, Debora, Rut, Judith, Ester, Maria, Maria Magdalena. All diese Namen bringen Geschichten zum Klingen, in denen Frauen Besonderes geleistet haben und entsprechend gewürdigt wurden dafür.
Heute möchte ich aber zwei Frauen in den Mittelpunkt unseres Nachdenkens stellen, die man meistens übersehen und übergangen hat. Schiphra und Pua. Kennen Sie die beiden? Nein?
Kein Wunder. Sie kommen in keiner offiziellen Predigtreihe vor. Auch in der Literatur spielen sie keine Rolle. Es gibt weder Theaterstücke noch Romane oder Filme über die beiden. Sie sind totgeschwiegen worden. Dabei sind sie echte Heldinnen. Damit geht es ihnen also genauso, wie vielen, vielen Frauen seither: Sie haben Großes geleistet, sie haben die Geschichte geprägt. Und dennoch spielen sie kurz danach schon keine Rolle mehr in Jahresrückblicken, Geschichtsbüchern oder bei der Benennung von Straßennamen. Denn sie sind ja „nur“ Frauen.
Das zweite Buch Mose immerhin erwähnt Schiphra und Pua sogar namentlich. „Israels Bedrückung in Ägypten“ - so ist das erste Kapitel in diesem Buch überschrieben. Die Vorgeschichte zu Mose also. Sie beginnt, wie Geschichten bis heute beginnen: mit der Situation, dass Menschen mit Migrationshintergrund in ihrer neuen Heimat nicht akzeptiert und angefeindet werden. Dem Pharao sind die Israeliten in seinem Ägypten zu stark geworden: „Wohlan“, sagt er, „wir wollen sie mit List niederhalten, dass sie nicht noch mehr werden. Denn wenn ein Krieg ausbräche, könnten sie sich auch zu unseren Feinden schlagen und gegen uns kämpfen!“ (Ex 1,10). Ausländer im Land? Da weiß man ja nie, auf welcher Seite die stehen. Fremde unter uns? Wer weiß, ob die loyal sind?! Besser, wir tun was, damit sie nicht noch mehr werden! Gesagt, getan, der Pharao setzt Fronvögte ein, verpflichtet die Israeliten zu Zwangsarbeit und behandelt sie wie Sklaven, alles andere als gut. Doch der erwünschte Effekt tritt nicht ein. Nach wie vor werden Kinder geboren und sie werden immer mehr. „Das Übel muss man an der Wurzel anpacken“, denkt der Pharao. Und nachdem er gehört hat, wer den israelitischen Frauen bei der Geburt beisteht, wendet er sich direkt an die beiden.
Hören wir aus dem 2. Mosebuch im 1. Kapitel zunächst die Verse 15 bis 17:
Der König von Ägypten sprach zu den hebräischen Hebammen, von denen die eine Schifra hieß und die andere Pua: Wenn ihr den hebräischen Frauen bei der Geburt helft, dann seht auf das Geschlecht. Wenn es ein Sohn ist, so tötet ihn; ist’s aber eine Tochter, so lasst sie leben.
Aber die Hebammen fürchteten Gott und taten nicht, wie der König von Ägypten ihnen gesagt hatte, sondern ließen die Kinder leben. (Ex 1,15-17)
Ziviler Ungehorsam also gegen eine unbarmherzige Anweisung, wie wir sie heute nur noch aus Hühnerfarmen kennen. Selbst da erscheint sie uns furchtbar: weibliche Exemplare leben lassen, männliche töten. Hier aber geht es nicht um Küken, sondern um Menschen: Mädchen, so das eiskalte Kalkül des Pharao, kann man leicht mal verheiraten mit Ägyptischen Männern. Aber Buben, die könnten ja eines Tages gefährlich werden. Also weg damit.
Der Kindermord von Bethlehem, liebe Gemeinde, tritt als Motiv hier also schon ein erstes Mal auf, kaum dass die biblische Erzählung überhaupt begonnen hat. Schon in der Frühgeschichte Israels also Antisemitismus, menschenverachtende Selektion, ein grausamer Befehl zum Töten. Wie oft ist das seither passiert – nicht nur, aber ganz besonders Juden gegenüber!
Schiphra und Pua stehen als Hebammen an der Schlüsselstelle, an der Schwelle zum Leben. Ihr Beruf ist es, Kindern ins Leben zu helfen. Seit alters her sind Frauen da, wenn Leben beginnt und wenn Leben endet. Hebammen und Leichenfrauen, Geburtshelferinnen und Klageweiber. Am Anfang und am Ende des Lebens lag und liegt die Versorgung meist in weiblicher Hand. Frauen, so sagt die Schriftstellerin Ingeborg Kruse, sind „Torhüterinnen des Lebens“.
Weil Schiphra und Pua Ehrfurcht haben vor dem Leben, achten sie Gott, der das Leben schenkt, höher als den mächtigsten Mann im Land. Sie missachten den Befehl des Pharao. Sie lassen gegen dessen Willen auch die männlichen Neugeborenen leben. Ziviler Ungehorsam durch schlichte Nichtbeachtung einer lebensfeindlichen Anordnung.
Das hat Konsequenzen. Der Pharao bekommt Wind davon und zitiert die beiden zu sich. Hören wir die Verse 18 bis 21 aus dem 1. Kapitel im 2. Mosebuch:
Da rief der König von Ägypten die Hebammen und sprach zu ihnen: Warum tut ihr das, dass ihr die Kinder leben lasst? Die Hebammen antworteten dem Pharao: Die hebräischen Frauen sind nicht wie die ägyptischen, denn sie sind kräftige Frauen. Ehe die Hebamme zu ihnen kommt, haben sie schon geboren.
Darum tat Gott den Hebammen Gutes. Und das Volk mehrte sich und wurde sehr stark. Und weil die Hebammen Gott fürchteten, gab er auch ihnen Nachkommen.
(Ex 1,18-21)
Was für eine Perversion, diese Frage des Pharao: Warum tut ihr das, dass ihr die Kinder leben lasst? Warum sonst sollten Kinder geboren werden als zum Leben? Man müsste die Frage umdrehen: Warum willst du, Pharao, Leben vernichten?! Aber Schiphra und Pua legen sich nicht an mit dem Mächtigsten im Staat. Sie sind realistisch genug, um zu wissen, dass das keinen Sinn hätte. Also antworten sie – vielleicht typisch weiblich – mit einer List: Unsere Frauen sind so stark, dass sie meist schon geboren haben, bis wir überhaupt da sind. Wir können also gar nichts tun, das Leben setzt sich von alleine durch. Wir Hebammen spielen dabei letztlich keine Rolle!
Das war vielleicht schon immer eine Strategie für Frauen: die eigene Rolle, den eigenen Einfluss kleinreden, nicht auf Konfrontation gehen. Stattdessen im Stillen und Verborgenen hinter dem Rücken der vermeintlich Mächtigen konsequent das tun, was frau für richtig hält. Wie viele Kinder, wie viele Menschen, sind durch solches Handeln schon bewahrt worden vor Unglück und Tod. In wie vielen tausend Fällen haben Frauen so oder ähnlich gehandelt, ohne dass das jemals an die große Glocke gehängt worden wäre. Hebammen, die Babys leben lassen. Bäuerinnen, die verfolgte Kinder bei sich versteckt haben. Frauen auf der Flucht, die stillschweigend ein verlorenes Waisenkind als das ihre mitversorgten. Heldinnen des Alltags, über die nicht viele Worte gemacht werden, die in keine Geschichtsbücher eingehen – und die doch Leben ermöglichen. Schiphra – das heißt übersetzt „die Schönheit“ und Pua bedeutet „der Glanz“. Ja, es legt sich ein besonders schöner Glanz übers Leben wenn da Menschen sind, die es von Anfang an lieben und fördern. Hebammen des Lebendigen bewerten nicht, was lebenswert ist und was nicht, sie selektieren nicht, sie spielen sich nicht auf als Richter. Sie helfen einfach dem Leben.
Genau das, so verspricht die Bibel, ist im Sinne Gottes. Leben fördern. Wer das tut, wird belohnt mit noch mehr Lebendigkeit, so erzählt unser Text am Ende: Weil die Hebammen Gott fürchteten, gab er auch ihnen Nachkommen. „Fürchten“ ist hier nicht im Sinne von Angst gemeint, sondern es geht um Ehrfurcht vor Gott, vor dem Leben. Eine Ehrfurcht, die größer und mächtiger ist als der gewaltsame Befehl eines Herrschenden. Ein Grund-Respekt, der über alle menschengemachten Hierarchien weit hinausreicht.
Jesus hatte den auch. Gott mehr fürchten als die Menschen. Zivilcourage zeigen. Am Ende die bitterste aller Konsequenzen tragen, den Tod – doch genau dadurch wieder den Weg in Leben eröffnen. Das ist das Geheimnis, das im Zentrum unseres Glaubens steht – so wie das Kreuz in dieser Kirche. Wir haben dieses Geheimnis gerade erst gefeiert an Ostern: Das Leben siegt! Keine Gewalt, keine Macht der Welt, kein Pharao, kein Pontius Pilatus, kein Putin hat am Ende die Macht, das Leben auszulöschen, das Gott will. Nach dem Karfreitag wird es Ostern. Nach dem Dunkel des Todes strahlt ein Licht auf – wie das Licht am Ende des Tunnels. Wie das Licht der Welt, das ein Kind empfängt nach dem dunklen, engen Geburtskanal.
Aber so schnell geht es noch nicht in unserer Hebammen-Geschichte. Da wird zunächst alles nämlich noch schlimmer: Nachdem die Unterredung mit den Hebammen nicht weiterführte, lässt der Pharao jetzt die Buben der Israeliten in den Nil werfen, entsorgen wie Müll. Aber wir wissen: einer wird ins Körbchen gelegt, er wird ausgerechnet von einer Ägyptischen Prinzessin gefunden, adoptiert und am Hof des Pharao aufgezogen. Just der wird später der große Befreier des Volkes Israel: Mose. Dieser Name bedeutet übrigens: „Aus dem Wasser gezogen“!
So verrückt wird Geschichte manchmal geschrieben: Aus der Krise entstehen Chancen, die vorher niemand für möglich gehalten hätte. Da steht einem das Wasser bis zum Hals; man glaubt, schon dem Untergang nahe zu sein. Und dann gibt es eine Wendung, die durch alles Schlimme hindurch am Ende Leben hervorbringt, Freiheit und Erfüllung. Ob wir Frauen sind oder Männer, ob unsere Geschichte erinnert werden wird oder nicht – wenn wir bei solchen Wendungen zum Leben mithelfen, dann sind wir stark wie Schiphra und Pua. Schön und glanzvoll, couragiert und engagiert dienen wir dem Leben. Und wir werden belohnt mit Leben. Christus jedenfalls hat uns versprochen: „Ich lebe und ihr sollt auch leben“ (Joh 14.19).
Liebe Gemeinde, das Leben fördern. Mädchen stark machen. Zu einem freien, guten Leben beitragen. Das möchte der ZONTA-Club Garmisch-Partenkirchen heute auch, wenn zu diesem Aktionstag einlädt. Was ist ZONTA? Ich zitiere aus der Homepage:
ZONTA INTERNATIONAL ist ein weltweiter Zusammenschluss berufstätiger Frauen. Weltweit bestehen in 63 Ländern über 1.200 Clubs mit mehr als 30.000 Mitgliedern. Wir legen Wert auf Vielfalt - die Mischung von Berufen, Talenten, Generationen und unterschiedlichen Sozialisationen.
Zonta wurde 1919 in den USA gegründet. Der Name ZONTA ist der Symbolsprache der Sioux Indianer entlehnt und bedeutet „ehrenhaft handeln, vertrauenswürdig und integer sein“. Die Gründerinnen wählten ihn als Anspruch an das eigene Handeln. Durch konkrete persönliche, ideelle und finanzielle Unterstützung bei lokalen und internationalen Frauenprojekten treten wir ein für die Gleichberechtigung aller Frauen, Achtung der Menschenrechte, ethisch verantwortungsvolles Handeln und die Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen. ZONTA ist überparteilich, überkonfessionell und weltanschaulich neutral.
Heute können Sie im Anschluss an den Gottesdienst hier essen, Kaffee trinken und in unserem liebevoll zusammengestellten Flohmarkt stöbern. Das alles wurde ehrenamtlich vorbereitet und durchgeführt. Jeder Cent, den Sie heute geben, kommt unserem Projekt zugute: Wir finanzieren damit, dass Mädchen der St. Irmengard-Schulen gestärkt und ermutigt werden, Aggressoren klare Grenzen zu setzen. Unter dem Motto „Stopp! Bis hierher und nicht weiter!“ lernen junge Mädchen wichtige Tricks und Kniffe zur Verteidigung im Ernstfall. Schon im letzten Jahr wurden dieser Kurs durchgeführt und war ein voller Erfolg. Bitte tragen also auch Sie dazu bei, dass wir heute auf diesem Weg zu Hebammen des Lebens werden.
Und Gottes Friede, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Pfarrerin Uli Wilhelm
Predigt am 23.04.2023 (Miserikordias Domini) in Grainau | Predigttext: 2. Mose 1,15-21
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