Noch einmal neu anfangen, mitten im Leben ganz neu beginnen, das wär's! Die Weichen neu stellen. Eine andere, mutige Richtung einschlagen. Sich nicht mehr dem Druck von allem möglichen beugen, sondern leben, aufrecht und frei. Konstantin Wecker hat darüber ein Lied geschrieben. Darin heißt es:
Jetzt möcht i oamoi, oamoi ganz von vorn ofanga,
Liabn und laut sei und mi beschwern.
I bin doch oiwei bloß am Bandl ghanga,
Jetzt misch i mit, jetzt möcht i plärrn.
In der Geschichte aus dem Johannesevangelium, die wir vorhin gehört haben geht es genau darum: Neu anfangen. Es ist ja ein seltsames Gespräch, von dem da berichtet wird. Einer kommt zu Jesus, mitten in der Nacht. Und sofort fängt Jesus an, von neuer Geburt zu reden und vom Geist Gottes. Ein hochtheologisches Thema - in wenigen Sätzen angerissen. Ob Nikodemus wirklich verstanden hat, worum es geht? Ob wir es verstanden haben?
Der Reihe nach. Nikodemus kommt in der Nacht zu Jesus. Die Nacht, das ist für viele eine Zeit, in der man sich leichter aufs Wesentliche konzentrieren kann. Tagsüber geht vieles unter im hektischen Alltagsleben. Eindrücke, Geräusche, Begegnungen lenken uns ab. Nachts freilich, wenn es still geworden ist und dunkel, kann aus unserem Unterbewusstsein Verborgenes auftauchen. Nachts wird so manches Problem in ein anderes Licht gerückt. Ein Gedanke breitet sich aus, beschäftigt einen, macht einen unruhig. An Schlaf ist nicht mehr zu denken.
Nikodemus ist ein angesehener, bekannter Jerusalemer Pharisäer. Als Mitglied des Hohen Rates trägt er viel Verantwortung. Er scheint ein unangefochtenes, stabiles und gut situiertes Leben zu führen und alle meinen: "Der hat seine Fragen gelöst, der hat sein Leben im Griff, der weiß, was er will!". Doch genau dieser Mensch wird offenbar umgetrieben von einer Frage, die ihn nicht loslässt. Es ist die Frage nach Gott. Die bohrt in ihm. Darüber grübelt er, wenn die Geschäfte des Tages vorüber sind. Wer ist dieser Gott wirklich? Wie kann ich Zugang, echten persönlichen Zugang zu ihm bekommen, wie ihn spüren? Jesus, der Umstrittene, behauptet, ihn zu kennen und ihm nahe zu sein!
So macht sich Nikodemus auf den Weg. Er sucht das Gespräch, sucht Klärung, sucht die Nähe Jesu. Heimlich still und leise schleicht er sich zu ihm, im Dunkeln. Denn er möchte nicht, dass man ihn sieht. Es wäre doch peinlich, wenn es aufkäme, dass er, der bekannte Nikodemus, bei diesem umstrittenen Rabbi aus Galiläa Antworten sucht. Nein, in seiner Position kann er es sich nicht erlauben, sich öffentlich zu Jesus zu stellen.
Jesus nimmt sich trotz der fortgeschrittenen Stunde Zeit für den späten Gast. Vielleicht hat er gemerkt, wie dringend Nikodemus reden muss. Gute Seelsorger spüren, wann man einen Menschen nicht wegschicken darf, gerade wenn dieser Mensch zu einer unmöglichen Zeit das Gespräch sucht.
"Wenn jemand nicht von neuem geboren wird", sagt Jesus, "kann er das Reich Gottes nicht sehen." Das ist wahrhaftig nicht leicht zu begreifen. "Wie kann das geschehen?", fragt Nikodemus. "Wie kann ein erwachsener Mensch noch einmal geboren werden?" Zurück in den Mutterleib, das Rad der Zeit zurückdrehen, noch einmal Kind sein, noch einmal sein wie damals?
Es gibt Extremsituationen, da reagiert unsere Psyche, als wäre das möglich. Eine alte Krankenschwester, die als junges Mädchen in einem Kriegslazarett an der Front eingesetzt war, hat mir vor Jahren einmal erzählt, dass viele schwer Verwundete damals nach ihren Müttern gerufen haben. Unbewusst sucht man in schwierigen Situationen offenbar Halt bei der Person, die einem zu allererst Halt und Sicherheit gegeben hatte, bei der Mutter. Psychisch kranke Menschen oder Patienten, die an der Alzheimer-Krankheit leiden, fallen manchmal über lange Zeiträume zurück in einen kindlichen Zustand. Solche Regression, solch einen inneren Rückschritt, meint Jesus freilich nicht, wenn er sagt, wir müssen neu geboren werden um das Reich Gottes zu sehen. Die Möglichkeit eines erfüllten, reichen Lebens liegt in der Gegenwart und in der Zukunft. Niemand muss sich dafür zurückverbiegen in die Zeit der Kindheit.
Also geht es um Wiedergeburt in einem anderen, womöglich esoterischen Sinn? Viele Leute finden ja Gefallen an der Vorstellung, einmal wiedergeboren zu werden, als eine ganz andere Person. Manche sind sogar der festen Überzeugung, dass sie noch Erinnerungen an vergangene Leben in sich trügen. Anders, so sagen sie, ließen sich bestimmte Fähigkeiten oder Kenntnisse gar nicht erklären. Ich gebe zu: die Vorstellung, im Sinne einer Reinkarnation mehrmals geboren zu werden, hat etwas Faszinierendes. Viel Unerklärliches lässt sich mit einer solchen Theorie scheinbar besser durchschauen. Die quälende Frage, warum ein Mensch es in seinem Leben so gut hat und ein anderer so schlecht, wird ganz einfach beantwortet: Du bekommst eben das, was du dir in deinem letzten Leben verdient hast: Hast du viel Gutes getan, gottgefällig gelebt, gutes "Karma", ein Konto positiver Gedanken und Taten, angesammelt, dann wird dir das eines Tages umgewechselt werden in ein neues, schönes Leben. Allein auf dich kommt es an, was zählt, ist deine Lebensleistung.
Jesus freilich sagt dem Nikodemus gerade das Gegenteil. Gar nichts kommt auf dich an, auf deine Leistung, auf deine guten Taten. Gott lässt sich davon doch nicht abhängig machen. Sein Geist, sein Lebensatem, weht, wo er will. Genau wie der Wind, so lässt sich auch dieser Geist nicht einsperren oder an ein bestimmtes Verhalten binden.
Du kannst dir das vorstellen, sagt Jesus, wie bei einer Geburt. Zu einer Geburt kann der oder diejenige, die geboren wird, nichts beitragen. Ganz ohne eigenes Zutun ist dein Leben entstanden. Niemals hast du dich bewusst dafür entschieden, auf die Welt zu kommen. Das Leben wird dir geschenkt. Es wächst dir zu im dunklen, verborgenen Mutterschoß und du kannst nichts, aber auch gar nichts dazutun zu diesem Wachsen. Du wirst nicht gefragt, ob du ein Mädchen werden willst oder ein Bub. Deine Eltern kannst du dir nicht aussuchen, deine Muttersprache nicht und weder Land, noch Zeit, worin du lebst. Längst sind die wesentlichen Koordinaten deines Lebens festgelegt, ehe du mit deinem Leben überhaupt richtig beginnst.
Genau wie mit so einer körperlichen Geburt ist es auch mit der inneren, geistlichen. Wiedergeburt nennt Jesus sie. Dazutun, entscheiden, mitbestimmen oder sie gar erzwingen können wir nicht. Sie ist und bleibt ein Geschenk Gottes ohne jegliches Verdienst, ohne jede Kontinuität zum Bisherigen. Diese neue, geistliche Geburt ist weder Belohnung noch Strafe. Sie ist einfach eine neue, andere Lebensmöglichkeit, allein von Gott gewollt und geschenkt.
Es gibt Leute, die ganz konkret von ihrer geistlichen Wiedergeburt reden können. Sie haben einmal ein so starkes Erlebnis mit Gott gehabt, dass seitdem alles anders ist in ihrem Leben. Paulus, der Apostel, war so einer. Er hat eine umwerfende Erfahrung mit Gott gemacht: Als er auf dem Weg nach Damaskus war, erschien ihm Christus. Das muss ein so einschneidendes Erlebnis gewesen sein, dass der fanatische Christenverfolger zu einem der glühendsten Verfechter des jungen Christentums geworden ist. Kein Wunder, dass Paulus sagen kann: "Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden." (2 Kor 5,17)
Aber nicht alle von uns haben ein so eindrückliches Wiedergeburts-Erlebnis. Es wäre schlimm, würde man eine solche Erfahrung zu Voraussetzung erheben, damit sich jemand Christ nennen darf. Mir gefällt die Aussage Jesu, dass der Geist Gottes eben weht, wo und wie er will. Deshalb ist es für mich auch kein Problem, dass ich in meinem Leben bislang noch keine derartige Wiedergeburts-Erfahrung gemacht habe. Paulus selbst ist der Meinung, dass es noch ganz andere Wege gibt. Er kann ebenso gut sagen: "Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert." (2 Kor 4,16b) Das entspricht eher der Art, wie ich mein Dasein erlebe. Wiedergeburt, Erneuerung - nicht als ein einziges Wahnsinns-Erlebnis, sondern als einen Weg, einen Prozess im Inneren. Dabei gibt es schon Tage, die mir in ganz besonderer Erinnerung sind. Da habe ich das Gefühl, heute hat Gott etwas ganz Neues mit mir angefangen. Tage, an denen bin ich mir vorgekommen wie neu geboren. Von solchen Momenten kann ich reden. Und von meinem Glauben, dass solche Momente etwas zu tun haben mit Gott.
Gerade zwanzig Jahre alt war ich, mit einem Freund unterwegs in die Berge. Ein strahlend heller Tag, im Autoradio spielen die Beatles. Da plötzlich ein Krach. Wir drehen uns wie ein Kreisel. Das Auto wird von der Straße geschleudert. Ich höre mich schreien. "So also endet dein Leben", denke ich noch. Aber es geschieht ein Wunder. Aus dem völlig verknautschten Wagen krabbeln wir beide heraus, beinah unverletzt. Schnell verwandelt sich der große Schreck in eine tiefe Dankbarkeit. Noch einmal davongekommen. Einen Schutzengel gehabt. Gott sei Dank. Ich erinnere mich gut, wie ich am nächsten Tag in die Uni gegangen bin. Jeden Menschen hätte ich umarmen können. Tausendmal hab ich erzählt, was passiert war. So wenig selbstverständlich schien es mir plötzlich, am Leben zu sein. Ganz intensiv habe ich alles um mich herum wahrgenommen. Und abends, da hab ich mit ein paar Freunden zusammen Geburtstag gefeiert, meinen Wieder-Geburtstag.
Auch weniger dramatische und trotzdem intensive Erlebnisse von Erneuerung und Neuanfang gibt es. Gottesdienste gehören für mich häufig dazu. Da kann ich innerlich ablegen, was mich bedrückt und herunterzieht. Mir wird zugesagt, dass Gott einen Neuanfang mit mir macht. Wenn noch dazu der Pfarrer oder die Pfarrerin es versteht, mich anzusprechen, oder eine schöne Musik mich ergreift, dann kann es geschehen, dass in mir eine große Leichtigkeit, eine Zufriedenheit und Zuversicht einkehrt. Neu, heil und erfrischt verlasse ich die Kirche, froh darüber, dass es solche Orte der Erneuerung gibt.
Wiedergeburt kann an vielen Orten stattfinden, zu jeder Zeit und auf ganz verschiedene Weise. So wie leibliche Geburten ganz unterschiedlich sein können, so ist es auch mit geistlichen Neugeburten. Die einen passieren ganz plötzlich und dramatisch, völlig unvorbereitet trifft es einen, wie eine Sturzgeburt. Andere kündigen sich lange vorher an, gehen mit Schmerzen einher oder mit Angst. Dann ist man froh um Beistand, um Hebammen, Geburtshelferinnen, die dabeibleiben und mit ihrer Nähe Sicherheit geben. Wieder andere geistliche Geburten könnte man vergleichen mit einem Kaiserschnitt. Bewusstlos, ohne Gefühl für Schmerz und ganz taub ist die Gebärende. Es sind die Ärzte, die mit ihrer Kunst das neue Leben hervorholen. So gibt es Erneuerung auch, dass ein dritter mit seiner Erfahrung und seinem Geschick eingreift und dadurch jemand das Licht der Welt erblicken kann. Der Geist Gottes hat viele Möglichkeiten, etwas Neues zu schaffen. Er weht, wo er will. Nicht immer durch die breiten Schneisen, durch die Windkanäle und über freie Flächen. Nein, dieser Geist kann in die seltsamsten Winkel des menschlichen Daseins hineinwehen und dabei manches durcheinanderwirbeln.
Dem Nikodemus scheint das jedenfalls passiert zu sein. Zwar berichtet die Bibel nicht, wie es ihm unmittelbar nach seiner nächtlichen Begegnung mit Jesus gegangen ist. Mag sein, er hat damals wirklich nicht viel verstanden und ist einigermaßen verwirrt abgezogen. Doch scheint durch das Gespräch Bewegung in sein Leben gekommen zu sein. Ein ganz anderer Wind fing da plötzlich an zu wehen.
Kurz nach jener Nacht legt sich Nikodemus mit seinen Parteigenossen, den anderen Pharisäern, massiv an - gegen alle Fraktionsdisziplin. Die Kollegen planen, Jesus in einer Art Handstreich festzunehmen und möglichst schnell und unauffällig abzuurteilen. Nikodemus widerspricht. Er verlangt einen ordentlichen Prozess. Er will niemanden mehr voreilig in irgendwelche Schubladen stecken. Offen miteinander geredet und zugehört muss einander werden, ehe man eine Entscheidung treffen kann. Das hat Nikodemus verstanden.
Als Jesus später doch hingerichtet wird, tut der Pharisäer Nikodemus etwas ganz Erstaunliches: Er begleitet die Freundinnen und Freunde Jesu, als sie den Leichnam vom Kreuz abnehmen. Und nun ist er es, Nikodemus, der all das beisteuert, was zu einem würdenvollen Begräbnis gehört. Er besorgt kostspielige Öle, Harze und Duftstoffe. Damit werden die Leinentücher getränkt, in die der Leichnam eingebunden wird. Ein letztes Zeichen der Achtung und der Würdigung, was man einem Verstorbenen zukommen lässt, und zwar ganz öffentlich, am helllichten Tag. Es war nicht ungefährlich für den Pharisäer, das zu tun. Er riskierte, als Nestbeschmutzer und Verräter beschimpft oder gar als Anhänger des Gekreuzigten verfolgt zu werden.
Nikodemus hat das in Kauf genommen. Wichtiger als die Sorge um das Gerede der Leute war es ihm, seinem Gewissen zu folgen. Er traute sich, zu seinem Gefühl zu stehen. Wichtiger als seine Angst war ihm die Freiheit, zu tun, wonach ihm zumute war. Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Ein echter Neuanfang in seinem Leben!
So kann es einem gehen, wenn man sich anrühren lässt von religiösen Fragen. Wenn man sie zulässt und ihnen Raum gibt. Wenn man dem Heiligen Geist das Fenster nicht zuschlägt, sondern offen ist für einen frischen Wind im Leben. Wenn es dann soweit ist, dann muss man losgehen. Dann darf man nicht zögern, sondern muss sich aufmachen - und sei es mitten in der Nacht.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus, der alles neu macht.
Amen.
Pfrn. Uli Wilhelm, Predigt am 4.6.2023 in Partenkirchen (Trinitatis) und am 3.5. (Abendgottesdienst) in Burgrain
Predigttext: Johannes 3,1-8
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