Kermani führt seine Tochter, gemäß einem Versprechen, das er seinem Vater gab, Abend für Abend in ein Gespräch über Glaubensfragen ein:“...unserem Islam, den Islam, mit dem ich aufgewachsen bin, ... den Islam unserer Vorfahren...“. Er will auf die Fragen seiner Tochter eingehen und stellt von Anfang an klar, dass es nicht um Lehre oder allgemeine humane Aspekte, wie Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Frieden, Gebote oder religiöse Traditionen geht, die auch Menschen schätzen und pflegen können, die sich als Atheisten bezeichnen würden, sondern um die Kernfrage nach dem, was Religion und Glaube für einen Menschen bedeuten:
„... also, was dieses Leben ist, das wir haben, und ob es nur aus dem besteht, was wir sehen.“
Entlang dieser sinnfälligen religionspädagogischen Grundidee entfaltet er in einer einfühlsamen, gut verstehbaren Sprache differenzierte Gedankengänge und grundsätzliche Fragen der religiösen Dimension, wobei man wissen muss, dass er sich als überzeugter Muslim, wie er ausdrücklich bekennt, sehr intensiv sowohl mit dem Christentum wie mit abendländischer Philosophie auseinandergesetzt hat, und schon aufgrund dieser Tatsache einen Islam besonderer Weitsichtigkeit und Toleranz seiner Tochter vermittelt.
Als erstes führt er sein Gesprächsgegenüber in die Betroffenheit einer erfahrbaren Endlichkeit alles Lebenden durch den Tod, weiter hin zum Staunen über die unermessliche Vielfältigkeit der Natur und die ungeahnte Weite des Kosmos' ...“die Dinge, Erscheinungen und Geschehnisse auf der Welt, die du siehst, aber nicht erklären kannst, weil sie unseren begrenzten Verstand übersteigen“, bis zu dem Gedanken: „Glaubt ihr denn, dass das alles Zufall ist?“... „Du wirst merken, dass du dir die Unendlichkeit nicht vorstellen kannst!“
… „Eben hier entsteht Religion: Sie ist eine Beziehung zwischen dem Endlichen und Unendlichen, das auch Gott genannt wird..., das ist der Ursprung des Islam und aller Religionen.“
Nach dieser pädagogisch klugen und einfühlsam formulierten Einführung stutzte ich: Wirklich aller Religionen?
Wenn ich an die Ursprünge unserer christlichen Religion, die in der Jahrtausende älteren jüdisch-israelitisch-semitisch-prophetischen Religion wurzelt, denke, so gründet diese eher in der Sehnsucht nach dem Du-Gott: „Ich bin euer Gott, und ihr sollt mein Volk sein“, und bei Jesus heißt es dann noch deutlicher und verinnerlicht: "Vater unser...“, also eine emotionale persönliche „Du – Gottesvorstellung“! Natürlich auch Schöpfergott, Gott der 10 Gebote: „Du sollst ...“, das Ringen in der Verzweiflung: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Und in Jesus Christus, als letzte überwältigende, so in keiner Religion geschenkte Offenbarung: „... den aller Weltkreis nie umschloss, der liegt in Mariens Schoß, er ist ein Kindlein worden klein, das alle Welt erhält allein...“ der vermenschlichte, im schwachen und hilfsbedürftigen Kind gegenwärtige und in allem Schwachen und allen Ängsten und Leiden dieser Welt seiende Gott.
In den fortführenden „Gesprächen“ stößt man immer wieder auf Gedanken, die biblisch-christlichem Denken vertraut sind, was auf dem Hintergrund, dass der Prophet Mohammed ca 700 n.Chr., nach längerem Zusammenleben mit Christen und Juden und dem Studium der biblischen Texte, seine für die arabische Welt formulierten Glaubensüberzeugungen, den Islam, verkündete, nicht so verwunderlich ist : „Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet“, wobei Kermani betont: Damit... „erkenne ich im Islam gleichzeitig auch alle anderen Propheten an, die vor ihm gesandt worden sind.“
Demnach stünde der Islam auf dem Boden der Überlieferung biblischer Prophetie, wobei nach neutestamentlichem Zeugnis Jesus jedoch als der letzte dieser prophetischen Tradition gilt.
Zudem zeigen Sätze wie:“Wer Christen oder Juden zu Ungläubigen erklärt, kann selbst kein guter Muslim sein,“ oder: „und Jesus wird im Koran ausdrücklich <Christus> gnannt, also der Erlöser oder Messias“, oder an seine Tochter gewandt: ... „und wenn du dich am Ende besonders zu Jesus hingezogen fühlst , weil er der Prophet der Liebe war, geht es dir wie vielen Muslimen, besonders den Sufis...“
Wie tolerant und offen Kermani sich dem christlichen Glauben gegenüber versteht!
(Die Sufis leben eine islamische Glaubenstradition, die von Musik, Tanz und Meditation erfüllt ist).
Einige wichtige, den Islam ausleuchtende Aussagen aus den Gesprächen mit seiner Tochter möchte ich aus Kermanis Buch zitieren:
„Islam leitet sich vom Wort Frieden ab, salam oder hebräisch shalom, und bedeutet wörtlich: sich unterwerfen, sich hingeben, Frieden schließen.“
„Der Islam ist eine klar umrissene Religion mit bestimmten Regeln, Überzeugungen, Lehren…Aber zugleich sind die Grundprinzipien des Islam so schlicht, dass du sie, in anderen Worten, mit anderen Regeln, von anderen Propheten, in beinahe allen Religionen und sogar bei den Naturvölkern antreffen kannst. Sie sind sozusagen universal. Deshalb heißt es ja im Koran auch, dass jeder Mensch als Muslim geboren wird.“
Unter den 5 Prinzipien, die für den Muslim wichtig sind, steht ... „gleich nach der Einheit Gottes und dem Prophetentum die Vernunft.“
So sehr jüdisch-christliches Glaubensleben von intellektuellem Ringen um das richtige Verstehen und Auslegen (Theo-logie!) durchdrungen ist, liegt hier, nach meinem Verständnis ein Unterschied: Nicht vor allem Vernunft, nicht anthropozentrisch wissenschaflich, ethisch liberale Lebensweisheit prägen die jüdisch-christliche Glaubensgemeinschaft, sondern Hoffnung auf ein vertrauensvolles, fast kindliches Beziehungsverhältnis zu Gott, der durch Jesus Christus unser aller Vater ist – und dies oft in bilderreicher, „wundersamer“ Sprache.
Ein Beispiel dafür:
Wenn es in Sure 19,16 zur Verkündigung der Geburt Jesu heißt: „Zu einem Zeichen machen wir das Kind den Menschen“, und bei Lukas, Kap. 1,3ff der Engel verkündet: „Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, des Namen sollst du Jesus heißen…“,
oder wenn Jesus predigt: „Das Himmelreich ist euer“, Mohammed dagegen: „Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn“ - dann hat die biblische Botschaft „einen anderen Ton“.
„Denn der Koran preist die Vernunft und erklärt jeden Menschen für gleich.“
Er „deckt in jedem Menschen auf, was in seinem Herzen ist ... erkenne dich selbst!“
„Das ganze Elend des heutigen Islams lässt sich unter anderem damit erklären, dass ein Großteil unserer Gelehrten die lebendige und damit veränderliche Beziehung zum Koran verloren hat.“
Mit solcher kritischen Bemerkung wird - wie in vielen anderen erhellenden Aussagen dieses Buches die Auseinandersetzung mit dem Islam spannend und das aufeinander zugehen, wie es der Titel: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen“, ausdrückt, eine Türen öffnende Einladung.
Muslime, die ihre Religion so wie Kermani verstehen, erklären, leben und an ihre Kinder weitergeben, sind hilfreiche, wichtige Gesprächspartner im Sinne des friedlichen Miteinanders aller Religionen dieser Welt, wie es auch Hans Küng, der katholische Theologieprofessor in seinem Lebenswerk: „Projekt Weltethos“ schon vor Jahren leidenschaftlich proklamiert hat.
- Selbstkritisch in der eigenen Religion Fehlgelaufenes beim Namen nennen und sich den Problemen stellen.
- Unterschiede ohne Überheblichkeit und in Respekt vor der anderen Religion achten.
- Gemeinsamkeiten hervorheben, pflegen und sich darüber freuen.
- Das je Eigene in Überlieferungs- und Glaubenstradition als bereichernde Substanz der eigenen Religion schätzen, und im Bedenken des „Gegenwärtigen“ weitergeben.
Kermani formuliert es so: ...“Die Religionen selbst verlören ihre Kraft und ihre Faszination, wenn sie sich von anderen nicht unterscheiden würden.“
und er zitiert Sure 2,115:
„Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident. Wohin ihr euch wendet, dort findet ihr Gottes Antlitz.“
Bei allen Gemeinsamkeiten der Religionen dieser Welt und dem Bemühen im Auseinanderzugehen und mit Achtung die Welt lebenswerter und besser zu gestalten,
so wie bei allem Respekt vor einem tiefsinnigen, gelehrten, differenziert denkenden und der eigenen Glaubenspraxis kritisch gegenüberstehenden, muslimischen Schriftsteller, wie Navis Kermani:
Ich wünsche mir, dass meine Kinder und Kindeskinder und alle Kinder, denen ich den christlichen Glauben von der Frohen Botschaft des Evangeliums Jesu Christi nahe zu bringen versuchte und alle Menschen, die ich liebe und schätze, und die in unserem Kulturkreis zuhause sind, diesen christlichen Glauben, der aus einer Jahrtausende alten biblischen Tradition schöpft, weiterhin in Freude verbunden bleiben.
Vor allem aber wünschte ich mir Eltern, die so liebevoll und klug, wie Navid Kermani ihre Kinder auf verständnisvolle Weise, Abend für Abend im Erzählen, Fragen und Antworten christlichen Glauben und Leben nahebringen, ans Herz legen und sie dadurch zu einem selbst verantwortlichen Leben führen.
Helga Müller-Bardorff, M.A.