Sterben als letztes Loslassen

Pfarrerin Birgit Schiel
Bildrechte Pfarrerin Birgit Schiel

Der alte Mann liegt röchelnd im Bett, schwach blickt er aus trüben Augen. Seine Gesichtsfarbe ist grau gelb. Seine Tochter sitzt erstarrt daneben, dann bricht es aus ihr heraus: „Jetzt stirbt er bald!“ Ihr Bruder herrscht sie an: „Sag doch sowas nicht!“ Der Hof hängt dran am Leben des Vaters. Die Sicherheit der Kinder.

„Es tut mir leid“ stammelt der alte Mann. Dann atmet er ein letztes Mal aus. Was ihm leid tut? Keiner weiß es genau. Vielleicht der jahrelange Streit mit dem Sohn? Die Missachtung der Tochter? Dass er den Erbstreit nie geregelt hat? Dass er auch mal zugeschlagen hat?

Wir lassen beim Sterben nicht nur unseren Besitz los, wie es in dem Bild mit dem letzten Hemd ohne Taschen heißt. Wir lassen auch alle Beziehungen los. Wir lassen alle Aufgaben und alle Verantwortungen los.

Wir lassen auch die unerledigten Beziehungsverknüpfungen los. Es ist keine Zeit mehr für Rache oder Reue, für Entschuldigungen oder Wiedergutmachung, für Liebesbekundungen oder Zärtlichkeiten. Unseren Händen entgleitet alles. Das ultimative Loslassen, das absolute Ohne-macht-sein. Gegen den Tod kann niemand etwas tun. Und das ist gut so.

Der Prozess des Sterbens kann schmerzhaft und schwierig sein, doch der Tod selbst ist sanft, wir gleiten hinein wie in einen Strom aus Wasser, der uns an unbekannte Ufer trägt. Als Christen glauben wir, dass uns am andern Ufer Gott erwartet. Aber die, die am Ufer der Lebenden zurückbleiben, bleiben mit ihren Aufgaben, ihrer Reue, ihrem Besitz zurück, müssen weiter planen, Verantwortung tragen, die losgelassenen Fäden neu aufnehmen und neu ordnen. Eine große Aufgabe. Da der Tod nicht mehr in der Mitte der Gesellschaft zuhause ist, fällt uns das oft schwer. Anonyme Beerdigungen, bei denen niemand mehr richtig der Trauer Raum gibt, werden immer häufiger. Der Tod muss in den Terminkalender passen, man will ja schließlich weiter funktionieren. Jahre später sind oft Depressionen die Folge. Verwundert fragt man sich: Was lässt mich da nicht los?

Eine Hilfe in diesem Prozess des Loslassens und Abschiednehmens geben viele christliche Rituale und Gebete, aber auch u.a. der Hospizverein Werdenfels e.V. (Bahnhofstr. 21) z. B. in dem Letze-Hilfe-Kurs (21.10.) oder sogar in einer Ausbildung zum Hospizbegleiter (Orientierungsseminar 11.11.-18.11.).

Es lohnt sich, regelmäßig über seinen eigenen Tod nachzudenken, darüber, was man loslassen möchte und sollte. Zu Lebzeiten, damit die letzten Worte nicht „es tut mir leid“ sind.

Pfrn. Birgit Schiel

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