Liebe Gemeinde, es gibt Augenblicke, die werden uns zu inneren Schätzen. Von denen zehren wir noch lang. Erlebnisse in den Bergen gehören für mich dazu. Ein Sonnenaufgang während eines Aufstiegs zum Beispiel. Ganz langsam wird der Himmel im Osten heller, ein zartes Grau zuerst, eine erste Ahnung davon, dass die Dunkelheit nicht ewig dauert, dann ein tiefes Lila, später flammendes Rot, leuchtendes Orange - und endlich spitzt die Sonne wie ein riesiger funkelnder Diamant hinterm Horizont hervor. Der Himmel wird blau, die Gipfel ringsum strahlen im ersten warmen Tageslicht; nur in den Tälern, in den tiefen, schattigen Einschnitten zwischen den Felsen, herrschen noch Kälte und Dunkelheit.
Sonnenaufgang im Gebirge. Ein Moment, in dem uns die Schönheit und Größe der Natur ergreift und anrührt. Ein Moment, in dem wir spüren: das ist mehr als ein äußeres Beobachten eines Naturphänomens. So ein Moment ist wie ein Geschenk. Er hat sich tief in mein Herz gesenkt. Dort wird er bleiben wie ein innerer Schatz. Wohl dem, der solche Schätze in sich trägt. Wohl dem, der von inneren Bildern und Reichtümern zehren kann, in Zeiten, wo das nötig ist.
Ich möchte Ihnen heute von einem Menschen erzählen, der solche Augenblicke in den Bergen erlebt hat, Momente, aus denen er Kraft und Vertrauen geschöpft hat für lange, schwierige Zeiten. Die Bibel erzählt von diesem Menschen im ersten Buch der Könige, obwohl er gar kein König ist. Im Gegenteil: angelegt hat er sich mit den Herrschenden seiner Zeit, so scharf kritisiert und provoziert hat er sie, dass ihn seine Königin schließlich verfolgen lässt und alles dransetzt, seinen Kopf zu bekommen. Ich rede vom Propheten Elia. Ein interessanter, mutiger Mann muss er gewesen sein, ein Kämpfer voller Energie und Elan. Sein Name ist Programm: Elia, das bedeutet übersetzt: Jahwe, der Gott Israels, ist mein Gott - und sonst keiner. Fast wie ein Kampfruf klingt dieser Name.
Und gekämpft hatte er, damals ums Jahr 850 v. Chr. Nachzulesen ist das im 1. Buch der Könige: Eine Machtprobe mit den Baalspriestern hatte Elia riskiert und hatte gewonnen.
Doch dann geschah, wie so oft in der Geschichte, das Schreckliche: Die Situation eskaliert. Elia macht die Baalspriester lächerlich und verspottet damit zugleich ihre Königin Isebel. Leidenschaft, religiöser Fanatismus, überschäumender Eifer, Hitzköpfigkeit - wie schnell können sie umschlagen in blutige Gewalt. Hunderte von Baalspriestern, so erzählt die Bibel geradezu selbstkritisch, werden getötet. Ein Massaker der schrecklichsten Art.
Es kommt nun, wie es kommen muss: die Königin schwört Rache. Sie droht Elia mit dem Tod und setzt Verfolger auf ihn an. Überstürzt flieht er nach Süden, gehetzt, verfolgt, allein. Nach seinem vermeintlich großen Triumph irrt er nun in den Bergen des Sinai herum, verängstigt, einsam, ausgebrannt und voller Selbstzweifel.
Nach dem Gipfelerlebnis ist das nun wie ein tiefes, dunkles Tal in seinem Leben. Elia kann nicht mehr. Er will nicht mehr. Alles ist ihm zu viel geworden. Er will nur noch sterben. Wer die Geschichte nachliest, im 1. Buch der Könige im 19. Kapitel, spürt, wie die Bibel in ihrer alten Sprache eine Krankheit beschreibt, die auch wir heute kennen: die Depression. Geradezu klassisch zeigt Elia die Phasen eines manisch-depressiven Erlebens: Mut, Kraft, Elan, ein Rausch von Erfolg zuerst - und dann den Absturz ins Bodenlose, in die völlige Resignation bis hin zu Selbstmordphantasien.
Es ist genug. So nimm nun, Herr, meine Seele (1 Kön19,4) betet Elia als er erschöpft unter einem Wacholderstrauch kauert. Da schickt ihm Gott einen Engel, lesen wir, der tut etwas geradezu Geniales: er stellt dem stellt ihm einen Krug Wasser und ein geröstetes Brot hin und fordert ihn liebevoll auf, doch etwas zu essen und zu trinken. Ein Schluck Wasser. Ein Stück Brot. Wer je hungrig und durstig unterwegs gewesen ist im Gebirge, weiß wie gut das ist. Dann lässt der Engel Elia in Ruhe. Er darf wieder einschlafen eher er noch mal isst. Das hilft in so einer Not, in so einer Depression, wenn erst einmal gar nichts von einem verlangt wird. Wenn man sich ausruhen darf, schlafen, dösen, träumen. Nichts müssen. Keine Gespräche führen, nichts begründen, nichts aufarbeiten, nichts planen ... Nur die einfachsten Lebensvollzüge: atmen, essen, trinken, schlafen - das ganz Elementare gibt die Kraft zurück. Erst jetzt, nachdem sich dieses Schlafen und Essen unter dem Wacholder wiederholt hat, redet der Engel davon, dass noch ein weiter Weg vor Elia liegt. Und er hat recht: der Weg aus einer Depression heraus, aus einer inneren Wüstenzeit, ist weit und anstrengend.
Auf diesem Weg nun hat Elia dann jenes großartige Erlebnis, das für ihn zu einem inneren Schatz wird. Ein Erlebnis in den Bergen, das für Elia prägend wird und ihn heilt. Es ereignet sich mitten im Sinai, am Horeb, in diesen großartigen Wüstenbergen aus gelben, orangen, braunen und weißen Farbtönen. Der Wind und die jährlichen Regengüsse haben im Laufe von Millionen Jahren die Felsen geschliffen, tiefe Wadis eingeschnitten und Höhlen entstehen lassen. Ich habe Ihnen einen Stein mitgebracht aus dieser Gegend, da sind die Farben der Wüste und der Sonne drin. Er sieht selbst aus wie ein kleiner Berg. Wenn Sie mögen, betrachten Sie ihn in Ruhe und geben Sie ihn dann weiter. (Stein herumgeben) Wir hören, was nun geschieht, aus dem 1. Buch der Könige, 19,9-13a:
Elia kam dort in den Bergen in eine Höhle und blieb dort über Nacht. Und siehe, das Wort des Herrn kam zu ihm: Was machst du hier, Elia? Er sprach: ich habe geeifert für den Herrn, den Gott Zebaoth; denn Israel hat deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert getötet, und ich bin allein übriggeblieben; und sie trachten danach, dass sie mir mein Leben nehmen. Der Herr sprach: Geh hinaus und tritt auf den Berg vor den Herrn! Und siehe, der Herr wird vorübergehen. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem Herrn her; der Herr aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel. (1. Kön 19,9-13a)
Ein Moment, allein, weit oben in den Bergen, der Elias Leben wieder hell gemacht hat. Eine Art innerer Sonnenaufgang nach einer finsteren Lebensphase. Danach, so lesen wir weiter in der Bibel, ist Elia fähig, wieder auf Menschen zuzugehen, Aufgaben anzupacken, seinen Weg weiterzugehen. Dieses Erlebnis in den Bergen hat viel verändert. Warum? Was ist da eigentlich geschehen?
Elia liegt in seiner Höhle am Horeb und führt einen inneren Dialog. Er lässt die aufregenden Ereignisse wieder und wieder an sich vorüberziehen. Er muss verarbeiten, was geschehen ist, immer und immer wieder steigen die entsetzlichen Bilder und Erinnerungen in ihm hoch. Da fordert Gott ihn auf, hinauszugehen. Aus seiner Höhle. Aus sich selbst vielleicht. Aus dem Dunkeln in das Licht, aus der Enge in die Weite hinaustreten, sich aufrichten, sich aufmachen, den Blick erheben, weiter schauen als auf das Eigene. Elia tut's, rappelt sich auf, kriecht hinaus und dort, halb in der Höhle noch und ganz mit der Erwartung, nun endlich seinem Gott zu begegnen, lugt er hinaus. Und dann erlebt er das Erstaunliche: einen Sturm, ein Erdbeben und ein Feuer. Drei gewaltige Naturereignisse, die jedem kalte Schauer über den Rücken jagen. Für Elia, so stelle ich mir vor, sind sie noch mehr: ein Spiegel geradezu für das, was hinter ihm liegt: sein fanatisches Kämpfen, seinen Feuereifer, sein Losstürmen. Und Elia merkt: da ist Gott gar nicht. Er ist nicht im Lauten, Gewaltsamen. Er ist nicht da, wo es poltert und dröhnt und wo Angst und Entsetzen einen erbeben lassen. Nein, der große Jahwe, der Gott Israels, zeigt sich anders: in einem stillen, sanften Sausen. Als das Elia hört, verhüllt er sein Angesicht. Ein Zeichen für Ehrfurcht und für die Gegenwart Gottes. Die Stille ist es, die ihm Gott nahebringt. Das Ruhige, das Sanfte lässt Elia spüren: ja, Gott ist da. Er lässt mich nicht allein. Er trägt mich durch die Gefahr und gibt mir immer wieder Kraft. Er behütet meine Seele. Er bewahrt mein Leben.
Gott in der Stille spüren, liebe Gemeinde, das können viele Bergsteiger auch. Ein sanftes, stilles Sausen – in einer Höhle im Sinai, auf einem Pass im Himalaya oder unter einem Gipfelkreuz in unseren Bayrischen Bergen. Der Ort ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass wir uns einlassen auf die Ruhe. Dass wir lauschen, auf den feinen Wind, auf unsere Atemzüge, auf das Pochen unseres Herzens und die fernen Schreie der Vögel. Still werden. Zur Ruhe finden. Die Natur schenkt uns immer wieder wunderbare Gelegenheiten dazu.
Ich lade Sie ein: probieren wir es aus. Halten wir ein paar Minuten Stille. Lauschen wir auf die Geräusche um uns her. Hören wir aber auch nach Innen. Mein Gong aus dem tibetischen Kloster ruft Sie dann wieder zurück. (Stille)
Ein wunderbarer, stiller Moment in der Natur. Frisch und gestärkt kann Elia seinen Weg nun weitergehen. Seine Lebensaufgabe, Gott zu dienen, bleibt. Aber nun tut er das anders, auf eine ganz neue Art. Weniger kämpferisch, weniger fanatisch, auch weniger dramatisch, aber doch mit neuer Energie und voller Kraft. Auch Gott geht seinen Weg weiter. Der göttliche Weg ist ein Weg der Sanftmut und der Gewaltlosigkeit. Das wird Jesus Christus der Welt neu und eindrücklich zeigen.
Manchmal, so stelle ich mir vor, wird sich Elia in seinem Leben sicherlich erinnert haben an jenen Moment dort oben am Horeb. Er wird diesen Augenblick wieder herausgezogen haben aus seinem inneren Schatzkästlein, wird sich darüber gefreut und Kraft daraus gezogen haben. Sicher hat er Menschen davon erzählt - deshalb ist die Geschichte später aufgeschrieben worden und in die Bibel gekommen. Man muss nicht schweigen über die Erlebnisse, die einen prägen und heilen. Man darf von seinen inneren Erlebnissen genauso berichten wie von den äußeren.
Mich rührt die alte Geschichte von Elia so an, weil sie mich neu an eigene innere Bilder heranführt, an Momente, in denen auch ich mich gehalten und von Gott geborgen wusste, selbst wenn vorher aufwühlende, schwierige Erlebnisse da waren, ich Fehler gemacht habe oder an der falschen Stelle gekämpft. Momente wie ein Sonnenaufgang im Gebirge nach einer langen Nacht - ich glaube, solche Momente sind Geschenke Gottes an uns.
Und sein Friede, der höher ist und sanfter als all unser Kämpfen und Wollen und Denken, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Pfarrerin Uli Wilhelm
Sommerpredigt 2022 „Leidenschaft Leben“
Ruhe nach dem Sturm. Von göttlichen Berg-Momenten der Stille.
Predigttext: 1. Könige 19, 9-13a
14.0822. Murnau, 21.08.22 Garmisch und Partenkirchen, 28.08.22 Mittenwald