Predigt am 12.03.2023 (Okuli) in Farchant und Partenkirchen

Pfarrerin Uli Wilhelm
Bildrechte Uli Wilhelm

Liebe und Verrat, Schmerz und Heilung, Kämpfen und Aufgeben, Gewalt, Macht, Schicksal, Dunkelheit und am Ende doch eine Ahnung davon, dass das noch nicht das Ende ist. Das, liebe Gemeinde, ist der Stoff, aus dem gute Geschichten sind, spannende Dramen, Filme, die uns packen. Der Sonntag „Okuli“ ist heute, benannt nach einem Wort im Psalm: Meine Augen sehen stets auf den Herrn (Ps 25,15). An diesem „Augensonntag“ geht es also darum, auf Christus zu schauen, ihn und seine Bedeutung für uns neu zu sehen. Folgerichtig führt uns der Predigttext eine Szene vor Augen, die schon tausendmal geschildert, gemalt und verfilmt worden ist. Eine dramatische Szene aus der Passionsgeschichte Jesu, die Sie alle kennen. Ein innerer Film läuft in uns ab, wenn wir die Worte aus dem Lukasevangelium hören. Ich lese aus dem 22. Kapitel die Verse 47 bis 53: 

Als Jesus aber noch redete, siehe, da kam eine Schar;

und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her

und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. 

Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? 

Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: 

Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? 

Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters

und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. 

Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! 

Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn. 

Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels

und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: 

Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? 

Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, 

und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. 

Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.

Nach der langen Nacht in Getsemane hat diese Morgenstund weiß Gott kein Gold im Mund, sondern vielmehr den bitteren Geschmack von Verrat, Feigheit und Willkür. Es ist der letzte Moment, den die Jünger Jesu mit ihrem Freund und Meister teilen. Es sind die letzten Worte, die sie von Jesus in Freiheit hören, ehe ihm kurzer Prozess gemacht und er ans Kreuz geschlagen wird. Letzte Worte, liebe Gemeinde, haben es in sich. Die vergisst man nicht so schnell. Sie bekommen im Nachhinein oftmals besonderes Gewicht.

Schauen wir uns also die drei Worte Jesu genau an. An seinen Verräter, an seine Jünger und an seine Verfolger richten sie sich. Als hätte Jesus in der Stunde seiner Gefangennahme nochmal das ganze breite menschliche Spektrum im Blick. Aber der Reihe nach:

Judas, einer seiner zwölf engsten Vertrauten, lag schon länger im Clinch mit Jesus. Sie waren sich uneinig über vieles: Den Umgang mit Frauen, mit Sündern, mit der römischen Besatzungsmacht. Immer wieder unterschiedliche Einschätzungen. Immer wieder Konflikte. Und irgendwann hatte Judas die Seiten gewechselt. Lukas, der Evangelist, schreibt am Anfang seines 22. Kapitels den Satz: Es fuhr aber der Satan in Judas (Lk 22,3). Ja, das kann einem schon so vorkommen, wenn ein Mensch plötzlich ganz anders tickt, sich entfernt vom bisherigen Freundeskreis, plötzlich extreme Ansichten vertritt und anfängt, radikal zu denken und zu handeln. „In den ist der Teufel gefahren“, heißt es dann. Weil man es sich nicht anders erklären kann, dass ein Mensch so wird. Irgendetwas Böses von außen muss ihn beeinflusst und am Ende gepackt haben. Und so geht Judas zu den Priestern und verrät ihnen, wo sie Jesus abseits vom Volk unauffällig finden und im Stillen verhaften können. Die ausführenden Schergen kennen Jesus gar nicht. Deshalb wird ein Zeichen vereinbart, damit auch sicher der Richtige verhaftet wird. Ausgerechnet ein Kuss. Philema heißt Kuss auf Griechisch. Darin steckt das Wort philia, das meint Liebe oder Freundschaft zu jemandem oder zu etwas (Philosophie, Philologie). Es ist nicht Liebe im erotischen Sinn, sondern Ausdruck eines tiefen Interesses, einer Verbindung, einer Verehrung. Sich aus so einer Haltung heraus zu küssen, zur Begrüßung oder als Zeichen des Friedens, war damals üblich unter Männern. Sie erinnern sich vielleicht an das berühmte Foto des Bruderkusses zwischen Breschnew und Honecker? So ähnlich muss man sich vermutlich auch den Kuss zwischen Judas und Jesus vorstellen. 

Jesus aber durchschaut, dass dieser Kuss das Gegenteil ist von Brüderlichkeit, Verehrung, Gleichgesinntheit, Freundschaft oder gar Liebe. Das schöne, intime Zeichen inniger Zuneigung wird hier brutal missbraucht. So wie es leider immer wieder geschehen ist: Missbrauch im Zentrum der Religion.

Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? fragt Jesus. Als Menschensohn hat er sich ja oft bezeichnet – ganz in der Tradition des jüdischen Denkens: Der Mensch ist Kind Gottes und zugleich Kind seiner Eltern, durch und durch Mensch – und zugleich verbunden mit seinem Schöpfer. Der kommende Menschensohn am Ende aller Tage war eine Vorstellung, die die Menschen getragen und getröstet hat, gerade in schweren Zeiten. Mensch sein – und dennoch wissen, dass das Menschsein noch nicht alles ist und da noch etwas Großes kommt. Das etwa schwingt mit in diesem Wort Menschensohn.

Doch warum fragt Jesus nun eigentlich: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? Er weiß es doch schon, dass es so ist. Warum dann eigentlich die Frage?

Eine Frage öffnet. Sie fordert den Gefragten heraus, eine Antwort zu finden. Eine Frage verurteilt nicht, sie bewertet nicht einmal. Eine Frage ist einfach eine Frage.

Das letzte Wort Jesu an Judas, seinen Verräter, öffnet. Vielleicht öffnet sie ja sogar das Herz des Judas, dass der „Teufel“ wieder herausfahren kann: alles Böse, Gehässige, Hinterfotzige, Gemeine, Verhärtete. Die Frage, stelle ich mir vor, wird Judas nachgegangen sein und ihn beschäftigt haben: „Warum hab ich das nur getan?!“ Wir wissen, was später geschehen ist: Judas hat sich das Leben genommen. Aggressiv gegen sich selbst, zu tiefst verzweifelt, ohne eine Zukunftsperspektive nahm er sich den Strick und machte ein Ende mit den unglücklichen Verstrickungen seines Lebens.

Auch das ist Leben, liebe Gemeinde. Auch das gehört dazu zu mancher Passionsgeschichte. Und es gehört zum Schwersten, wenn man in einer Familie oder einem Freundeskreis zurechtkommen muss mit einem Suizid. An dieser Stelle schweife ich bewusst kurz ab von unserem Bibeltext und nehme sie kurz mit an einen Ort, den ich als sehr tröstlich empfinde: 

In die Kirche St. Georg. Sie liegt an der Oberschwäbischen Barockstraße in Ochsenhausen im Landkreis Biberach. Wer da reinkommt, staunt nicht schlecht: Da hat der Künstler Gaspare Mola vor rund 300 Jahren im Langhaus der Kirche alle Apostel Jesu dargestellt. Einer davon trägt als Attribute einen Geldbeutel und einen Strick: Es ist Judas. Er ist hier nicht, wie sonst immer, ersetzt worden durch seinen Nachfolger Matthias. Nein, der Verräter, der Selbstmörder, steht mitten unter den anderen Jüngern, hat ebenfalls seinen Platz in der Kirche und – man staune – trägt genau wie alle anderen Jünger einen Heiligenschein. Das Böse, die Verzweiflung, das Schmerzliche, ist hier nicht abgespalten, muss nicht als Projektionsfläche für Hass oder gar Antisemitismus herhalten, sondern ist integriert in die Kirche. Der Verzweifelte, Gescheiterte, der Looser bleibt dennoch Jünger, geheiligt, geachtet und geehrt. Das ist sehr beeindruckend zu sehen. Und hätte Jesus sicherlich gut gefallen. Auch er hat Judas ja nicht verurteilt. Sein letztes Wort an den Verräter ist die offene Frage.

Damit wieder zurück zu unserem Text: Das zweite Wort Jesu richtet sich an seine Jünger. Als sie zu kämpfen beginnen, einer von ihnen einen Knecht am Ohr verletzt, weist Jesus sie klar in die Schranken: Lasst ab! Nicht weiter! So sein klarer Befehl. Im Matthäusevangelium wird sogar noch ergänzt: Wer das Schwert nimmt, der wird durchs Schwert umkommen! (Mt 26,52). Das ist die letzte Botschaft Jesu an seinen Jüngerkreis: Stopp! Keine Gewalt! Kein Kampf! Niemanden verletzen. Durch eine Berührung heilt Jesus nun sogar die Wunde des Verletzten. Erste Hilfe, letzte Hilfe. Die letzte Heilung Jesu im Evangelium gilt genau dem Knecht, der ihn gleich ergreifen, abführen und ausliefern wird. Was für eine Botschaft steckt da drin, liebe Gemeinde! Liebt eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen. So hatte es Jesus gefordert in der Bergpredigt. Jetzt, in der dramatischen Situation seiner Gefangennahme, macht er nun vor, wie das geht. Ist das feige? Naiv? Ein vorschnelles Aufgeben? Angst, zu kämpfen? Oder ist es am Ende das Wissen: Ihr könnt zwar Gewalt anrichten, meinen Körper auslöschen, alles zerstören – aber mich, meine Seele, meine Ideen, mein Leben, habt ihr am Ende nicht in der Hand.

Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unseren Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine!

Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges am 24. Februar 2022 singen wir dieses fast 500 Jahre alte Friedenslied Martin Luthers wieder häufig am Ende des Gottesdienstes. Da schwingt das Wissen mit: Niemals können wir Menschen allein letztlich den Frieden schaffen. Allein der Geist Gottes kann das tun. Tröstlich in Zeiten, in denen wir alle vor dem Dilemma stehen: Waffen liefern oder nicht? Aufrüsten oder verhandeln? Kämpfen oder sich auf Kompromisse einlassen? Niemand hat vermutlich eine letztgültige Antwort. Nur eines gilt: Aufhören zu beten dürfen wir nicht!

Am Ende wendet sich Jesus beinahe verwundert an die, die ihn gefangen nehmen:

Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen?

Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt.

Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.

Ja, eine finstere Stunde. Die Freiheit Jesu ist ab jetzt verloren. Er wird gefesselt, bewacht, verhöhnt, verlacht, verhört, gequält, verurteilt und ans Kreuz geschlagen um einen elenden, extrem qualvollen Tod zu sterben. Einen Tod, wie ihn Schwerverbrecher, politische Aufrührer und Staatsfeinde sterben mussten. Doch nicht einmal seine Richter und Folterknechte verurteilt Jesus. Er weiß, sie sind alle nur Handlanger der Finsternis, Werkzeuge des Bösen. Und vielleicht braucht Gott diese Werkzeuge, damit am Ende alles Böse überwunden werden kann.

Vor gut achtzig Jahren, am 23. Februar 1943, wurden Sophie und Hans Scholl sowie Christoph Probst im Gefängnis Stadelheim in München ermordet. Wer die Prozessaufzeichnungen liest oder den Bericht des Seelsorgers Karl Alt, findet da eine ähnliche Haltung wie bei der Verhaftung Jesu: Gewaltlos, ohne Panik, ohne Verurteilungen. Pfarrer Alt hat mit Sophie noch Abendmahl gefeiert, bis der Wächter an die Zellentür pochte und sie zur Hinrichtung abholte. „Sie richtete aufrecht und ohne mit der Wimper zu zucken noch ihre letzten Grüße an den ihr unmittelbar folgenden innigst geliebten Bruder aus.“ So schreibt der Pfarrer. Auch da: keine Vorwürfe, keine Beschuldigungen. Nur ein Gruß. Nur Liebe am Ende.

Wie gut, liebe Gemeinde, dass es solche aufrechten Menschen gegeben hat. Nur so kann das Böse überwunden werden und Versöhnung wachsen. Ja, die Finsternis ist mächtig. Auch heute. Aber niemals ist sie allmächtig. Niemals wird sie das letzte Wort behalten. Niemals werden Angst, Qual und Tod am Ende siegen. Dafür ist für uns Christen das Kreuz das tiefste Symbol. Wir hängen es ja nicht auf in unseren Kirchen, weil wir Lust haben an der Qual oder am Anblick eines Gefolterten. Wir hängen es auf, weil wir wissen: Ja, es gibt Leid, Finsternis, Bosheit und Fanatismus. Wir müssen dem ins Auge sehen. Wir haben die Kraft dazu, weil wir wissen: Die Liebe Gottes ist am Ende größer. Meine Augen sehen stets auf den Herrn. Auf seinen Schmerz – am Ende aber auch auf seinen Sieg – Gott sei Dank. Und sein Friede, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Pfrn. Uli Wilhelm, Predigt über Lukas 22,47-53 am Sonntag Okuli in der Markuskirche zu Farchant und der Johanneskirche zu Partenkirchen

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