Das kleine Mädchen steht da, die Hand seiner Mama fest umklammert. Da drüben sitzt Papa. Er lockt: „Komm her zu mir. Trau dich. Los!“ Mama bewegt sich nicht. Da lässt die Kleine ihre Hand los. Wackelig und ein wenig taumelnd stürzt sie schwankend auf ihren Vater zu. Der fängt sie lachend auf. Das Wunder ist geschehen: Das kleine Menschlein hat seine ersten selbständigen Schritte gemacht!
Als Eltern oder Großeltern ist uns diese Szene vertraut. Ein besonderer Augenblick ist das, wenn ein Kind seine ersten Schritte wagt. Wie viele erste Schritte werden noch folgen! Zum ersten Mal in den Kindergarten, der erste Schultag, die erste Übernachtung anderswo, der erste Urlaub ohne Eltern und so weiter. All diese ersten Male setzen Loslassen voraus. Das beginnt mit der Geburt und reicht bis zum letzten Atemzug. Auch der letzte Schritt im Leben, das Sterben, ist am Ende ein großes Loslassen. Ohne Lassen gibt es keine Selbständigkeit, keine Entdeckungen, keine Entwicklung. Sich gehen lassen ist nötig, um Selbst-Bewusstsein zu entwickeln. Wer Neues ausprobieren will, muss Sicherheit verlassen. Nur wer loslässt, kommt an. Gut, wenn wir dabei aufgefangen werden wie das kleine Mädchen von seinem Papa. Gut, wenn es Eltern gibt, die uns etwas zutrauen, Freundinnen, die für uns da sind, eine Familie, die auch in schwierigen Zeiten zu uns steht, Kollegen, die einander solidarisch verbunden sind. Und gut, wenn wir glauben können, dass da Gott ist, der unser Leben auffängt. „Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“, heißt es. Ein schönes Bild für das tiefe Grundvertrauen, das der Glaube schenkt: In allem Loslassen, allem Schwanken und Taumeln unseres Lebens ist Gott auf geheimnisvolle Weise da. Er ist das Woher und das Wohin unseres Lebens. Dieses Vertrauen schenkt Gelassenheit. Meister Eckhart, der große Mystiker des Mittelalters, konnte von der „Tugend Gelassenheit“ sprechen und meinte damit das Loslassen: „Man muss erst lassen können, um gelassen zu sein“ schreibt er. Auch Eckarts Schüler Heinrich Seuse schwärmte vom gelassenen Menschen, den kein Vorher und kein Nachher zerstreue. So ein Mensch lebt gelassen und präsent, ganz im Augenblick und zugleich in der Weite göttlicher Ewigkeit.
Das wünsche uns allen, dass wir gelassen und vertrauensvoll unseren Weg gehen können: selbständig, engagiert, solidarisch und getragen vom Vertrauen, dass Gott gerade im Loslassen bei uns ist.
Ihre Pfarrerin Uli Wilhelm