Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. 3. Mose 19,33
Der Monatsspruch für den März hat es in sich und ist brandaktuell. Schon lange beschäftigt uns in unserem Land und in Europa der Fremde, der Mensch, der von woanders kommt und nun mitten unter uns lebt. Sofort höre ich die Menschen, die danach rufen, die Grenzen zu schließen. Ich denke an die Kommentare, die ich in dieser Woche in verschiedenen Zeitungen gelesen habe, als in meiner alten Heimatstadt Berlin ein Flieger mit 155 Menschen aus Afghanistan gelandet sind. Ich denke an all die Anschläge in den vergangenen Wochen und Monaten und dem damit verbundenen Leid. Dieser Vers löst viele Bilder und Gedanken in mir aus.
In dieser Woche ist von Hannah Bethke das Buch „Vom Glauben abgefallen – Eine Antwort auf die Krise der evangelischen Kirche“ erschienen, das ich mit großem Interesse lese. An einer Stelle schreibt sie etwas, was ich kürzlich so ähnlich auch in einer Predigt zu diesem Thema gesagt habe. Sie schreibt: „Die EKD … mischt sich häufig in die Migrationspolitik ein. Ihr Signal ist klar darauf ausgerichtet, nicht etwa weniger, sondern nach Möglichkeit mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Probleme der Integration und Aufnahmekapazitäten werden in den wenigsten Äußerungen benannt.“
Der Monatsspruch weist genau auf diese Problematik hin. Menschen in seinem Land aufzunehmen, ist weit mehr, als ihnen Geld und ein Dach über dem Kopf zu geben. Ich übernehme auch eine Verantwortung für den anderen. Und genau das macht der Monatsspruch deutlich. Der Vers 3. Mose 19,33 ist Teil des sogenannten „Heiligkeitsgesetzes“, das den Israeliten Anweisungen gibt, wie sie ein heiliges Leben führen können, das Gott ehrt. Dieses Gesetz sollte ihnen helfen, eine gerechte und heilige Gemeinschaft zu bilden. Leben wir in einer gerechten und heiligen Gemeinschaft? Ich glaube, in aller Schlichtheit, dass wir weit davon entfernt sind, weil wir so ganz eigene Vorstellungen davon haben, was eine heile und damit heilige Gesellschaft ist. Unsere Gesellschaft ist mehr und mehr davon geprägt, sich selbst der Nächste zu sein und den Nächsten auf Abstand zu halten.
Der Monatsspruch aus dem Leviticus zeigt, dass Gottes Gebote nicht nur die rituelle Reinheit betreffen, sondern auch soziale Gerechtigkeit und zwischenmenschliche Beziehungen. Der Vers ist ein Aufruf, die Liebe Gottes in der Gemeinschaft widerzuspiegeln, indem man alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, mit Würde behandelt. Und Würde bedeutet, einen anderen Menschen wirklich aufzunehmen, also wirksam aufzunehmen. Vers 34 konkretisiert das: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst…“ Damit wird deutlich, dass man mit der Aufnahme eines Menschen auch eine Verpflichtung ihm und Gott gegenüber eingeht. „…wie ein Einheimischer…“ bedeutet, ihn zu integrieren, ihm auch Teilhabe durch Sprache zu geben, durch das Erleben der eigenen Kultur und das gegenseitige Verstehen.
Die Aufnahme bedeutet Verantwortungsübernahme. Und dieser Verantwortung gilt es gerecht zu werden. Geld und Dach reichen nicht. Ich muss den zweiten Schritt mitbedenken und auch gehen. Diesen zweiten so notwendigen Schritt, der am Ende das Christliche ausmacht, führt uns Jesus Christus mit dem Gleichnis des Barmherzigen Samariter vor Augen. Es geht darum, den unter die Räder Gekommenen nicht nur zu verarzten, sondern auch dafür zu sorgen, dass er wieder Teilhabe am normalen Leben haben kann und dafür braucht es entsprechende Maßnahmen, Maßnahmen, die natürlich auch mit Kosten verbunden sind.
Wer also nur aufnimmt, ohne den zweiten Schritt zu bedenken und auch zu gehen, unterscheidet sich am Ende nicht großartig von den Geistlichen, die in dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter am überfallenen und geschundenen Menschen vorbeigegangen sind. Wer nur aufnimmt, ohne verantwortliche Integration, unterdrückt am Ende den anderen Menschen, weil er ihn seiner Möglichkeiten, sich einzubringen, beraubt. Diese Erkenntnis stammt aus dem 6. Jahrhundert vor Christus, und hat heute – mehr als 2600 Jahre später – nichts von ihrer Richtigkeit verloren. Eine wunderbare Einladung, sich in seinem Leben und seinen Entscheidungen mehr an der Weisheit der Heiligen Schrift zu orientieren. Sie ist nämlich alles, nur eines nicht: weltfremd.
Euer Pfr. Martin Dubberke