Hosianna 2022

Palmbusche in der Johanneskirche
Bildrechte Martin Dubberke

Liebe Geschwister, in den vergangenen Tagen habe ich mir immer wieder die Frage gestellt, was passieren würde, wenn Jesus z.B. in Kiew oder einer anderen ukrainischen Stadt, einem anderen Ort einziehen würde.

Was würden die Menschen rufen und was würde der Mann im Kreml dann tun? Würde er seiner Armee befehlen, ihm mit Kabelbinder die Hände hinter seinem Rücken zu fesseln und ihn dann zu erschießen? Ihn zu ermorden, ein Verbrechen zu begehen, weil er seine eigene Ordnung erhalten und wiederherstellen möchte, weil ihm die Ordnung Gottes – also der Freiheit und des Friedens zu gefährlich würde? Weil sie ihm die Macht nimmt? – Und ich sage bewusst „nimmt“ und nicht „nehmen würde“.

Wir erinnern uns daran, dass jemand, der seine Hand gegen einen anderen erhebt und sei es auch durch einen Befehl, dass der seine Hand gegen Gott selbst erhebt, weil jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist, weil einem in jedem anderen Menschen Jesus begegnen kann?

Die Bilder aus Butcha lassen mich nicht los. Doch ein Bild hat mich in dieser Woche mehr als alle anderen Bilder innehalten lassen, ein Bild, auf dem keine Leichen zu sehen sind, ja nicht einmal Menschen. Es ist das Bild eines ukrainischen Spielplatzes, auf dem eine Rakete eingeschlagen ist, aber nicht explodiert ist. Ein bedrückendes Bild, weil es deutlich macht, dass der Mann im Kreml vor nichts haltmachen lässt. Was ist denn unschuldiger als ein Kind? Hat Jesus nicht gesagt:

„Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ 

Matthäus 18,3

Was machen solche Bilder mit uns? Was macht das aus den Menschen, die diesen Krieg nicht im Fernsehen erleben, sondern ganz real erleben und erleiden müssen?

Der ukrainische Präsident Selenskyj sagte gestern in einem Interview der Wochenzeitung „Welt am Sonntag“:

„Ich weine nicht mehr. Ich kann nicht mehr weinen.“

Wie viel kann ein Mensch ertragen, aushalten? Welchem Druck und welcher Belastung müssen Menschen in einer solchen Zeit standhalten?

Der Journalist, der Selenskyj interviewte stellte ihm auch folgende Frage:

Wenn sie heute Abend Ihre Augen schließen und versuchen zu schlafen, was sehen Sie da?

Selenskyj: Das haben Sie richtig formuliert – wenn ich versuche zu schlafen. Es ist sehr schwer, einzuschlafen. Ich lese, schaue Nachrichten, ich gehe von A nach B, ich wälze mich herum. Meistens weiß ich hinterher nicht, wann ich eingeschlafen bin.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen, wie es Euch geht. Mich, der ich doch als Kind von Kriegskindern, als Pazifist aufgewachsen und erzogen worden bin, der seinen eigenen Kindern Spielzeugpistolen und Ballerspiele verwehrt hat, so wie meine Eltern, die den 2. Weltkrieg als Kinder erlebt und als Jugendliche überlebt hatten, getan haben. Ich erlebe, dass ich angesichts der Bilder, angesichts der aus der Ukraine geflohenen Menschen, denen ich hier bei uns begegne, der Gespräche, die ich führe, vom Fühlen und Denken an die Grenzen meines Pazifismus gerate. Was ist aus der Maxime „Frieden schaffen ohne Waffen“ geworden, mit der die meisten von uns aufgewachsen sind? Ich kann mich noch gut an all die Plakate und Buttons erinnern, die es damals gab, die man sich an die Wand oder die Brust heftete.

Und heute? Ich erlebe, dass „Frieden schaffen ohne Waffen“ gescheitert ist. Genauso auch der Satz: „Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin.“ Ich habe diesen Satz geliebt, weil er alles so einfach erscheinen ließ. Man muss nur nicht hingehen. Aber der Satz, und das ist mir in diesen Tagen so sehr bewusst geworden, nimmt nur die Perspektive des Aggressors auf. Ja, stell Dir vor, die 150.000 Soldaten wären nicht an die Grenze zur Ukraine gegangen, hätten nicht die Raketen auf Krankenhäuser, Häuser und Wohnungen, Bahnhöfe, auf denen Menschen, warteten, die vor diesem Krieg fliehen wollten, geschossen.

Was ist aber mit der Kehrseite dieses Satzes: „Stell dir vor, der Krieg kommt in dein Land…“ Wie müsste dieser Satz vervollständigt werden?

Und vergessen wir eines nicht: Auch wenn bei uns nicht eine einzige Rakete eingeschlagen ist, nicht ein einziger Panzer durch unsere Orte gerollt ist, nicht ein einziger Mensch getötet worden ist, befinden auch wir uns in einem Krieg, der nicht mit heißen, sondern mit kalten Waffen ausgefochten wird und genauso Opfer zur Folge haben wird, wie ein heißer Krieg, nur anders. Der Mann im Kreml hat an dem Tag, als er seine Soldaten, seine Raketen in die Ukraine schickte, der ganzen westlichen Welt den Krieg erklärt. Die EU und damit auch Deutschland ist Kriegspartei. Darüber dürfen wir uns nicht täuschen lassen.

Paulus hat seinen Römern einst folgendes ins Stammbuch geschrieben:

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist. 

Römer 14,17

Als, ich vor mehr als vierzig Jahren für den Frieden auf die Straße gegangen bin, gegen die Aufrüstung demonstriert habe, hätte ich nie gedacht, dass ich die Parolen meiner Jugend, die alle mit dem Satz „Frieden schaffen ohne Waffen“ verbunden sind, in Frage stellen würde. Ich möchte jetzt kein Politiker sein, der aus der gleichen Erfahrung heraus wie meine Generation aufgewachsen ist.

Dietrich Bonhoeffer hat eine Theologie gelehrt, die immer wieder die prekäre Balance zwischen einer unverstellten Wahrnehmung des Wirklichen und der öffnenden Perspektive des Evangeliums gesucht hat. Und genau in dieser Situation befinden wir uns hier und jetzt, heute: Das Wirkliche wahrzunehmen und die Perspektive des Evangeliums zu suchen. Exakt das ist der schmale Grat, auf dem wir als Christinnen und Christen wandeln.

Und genau vor diesem Hintergrund sind zwei Verse aus dem Evangelium dieses Sonntags für mich besonders wichtig:

…nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! 

Johannes 12,13

Die Palmzweige symbolisieren, dass wir uns in unserem Leben ganz und gar der Königsherrschaft Jesu unterstellen. Das hat eine umwälzende Wirkung auf die Gesellschaft, die Welt, weil sie deutlich macht, dass die Worte, die Lehre Jesu, wie er sie z.B. in seiner Bergpredigt formuliert hat, die verbindliche Richtschnur unseres Handelns sind.

Das Hosianna, das „Hilf doch!“, das wie ein Jubelruf wirkt und doch keiner ist, macht deutlich, dass wir das nicht ohne die Hilfe Jesu bewältigen können. Das Hosianna macht deutlich, dass wir das nicht aus eigener Kraft heraus schaffen können , sondern nur mit der Kraft Jesu. Das Hosianna ist Ausdruck der ganzen Hoffnung, der Erwartungshaltung Jesus Christus gegenüber, dass mit ihm nun alles anders, besser wird, dass er nun den Job an unserer Stelle übernehmen soll. Aber am Ende der Geschichte wird deutlich, dass wir etwas tun müssen, dass wir selbst etwas tun müssen, es nicht auf andere abwälzen können, um am Ende dann dem, von dem wir die Hilfe erhofft haben, das „Kreuzige ihn“ zuzurufen. Bonhoeffer hat einmal gesagt, dass Jesus keine Hände hat, sondern wir Jesu Hände sind. Wir müssen wie und im Sinne Jesu handeln.

Und wir können das, weil der Einzug Jesu in Jerusalem die Zusage erfüllt, die wir schon seit Sacharjas Zeiten kennen und Jesus hier zitiert:

„Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.“ 

Sacharja 9,9 | Johannes 12,15

Und dann gibt es einen zweiten Vers, der mir heute besonders wichtig ist:

Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach. 

Johannes 12,19

Hier geht es um die Nachfolge Jesu, ihm nachzufolgen. Und genau aus diesem Grund ist für mich die Erkenntnis der Pharisäer von so fundamentaler Bedeutung:

Solange wir Jesus nachlaufen, können die der Sache Jesu, dem Frieden und der Freiheit feindlich Gesinnten, nichts ausrichten.

Und genau das ist meine große Hoffnung, weshalb ich aus tiefstem Herzen heraus „Hosianna!“ rufe.

Amen.

Pfr. Martin Dubberke
Bildrechte Johannes Dubberke
Pfr. Martin Dubberke

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am Sonntag Palmarum, 10. April 2022 über Johannes 12, 12-19 in der Markuskirche zu Farchant und der Johanneskirche zu Partenkirchen

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