Ihr sollt heilig sein

Ihr sollt heilig sein
Bildrechte Martin Dubberke

Liebe Geschwister, Gottes Wunsch ist, dass wir heilig sind. Aber was ist das? Ich sehe niemanden hier unter uns, über dessen Kopf ein Heiligenschein leuchtet. Wir sind doch eigentlich alle irgendwie kleinere oder auch größere Sünder.

Bei der Gelegenheit, wenn ich mit Katholiken bei uns im Ort ins Gespräch komme und es mal wieder um die Beichte geht, sind die meisten jedes Mal erstaunt, wenn ich sage, dass es auch bei uns die Einzelbeichte gibt. Und dann sage ich, dass es den meisten Evangelischen genauso ginge. Die wüssten auch nicht, dass wir eine Einzelbeichte haben. Also, wen seine Sünden drücken oder wer glaubt, eine Sünde begangen zu haben, ist herzlich dazu eingeladen, zu mir zur Beichte zu kommen. Wir können das bei mir im Amtszimmer machen, wo wir nicht gestört werden oder auch – wie ich es immer nenne – einen Beichtgang machen. Sprich, wir starten in der Kirche mit einem Gebet und gehen dann miteinander spazieren – um am Ende in der Kirche mit der Absolution aufzuhören und etwas Neues anzufangen. Solche Spaziergänge mache ich öfter, als Ihr glaubt. Also, Ihr seid herzlich eingeladen, von der Beichte Gebrauch zu machen.

Aber wieder zurück zu dem Wunsch Gottes, dass wir heilig sein mögen. Was ist eigentlich heilig? Heilig kommt von Heil, von heil sein. Heil ist unversehrt, wollständig, vollkommen.

Naja, Gott macht es im Gespräch mit Mose konkreter und leichter fassbar. Heilig sind wir, wenn wir:

Anständig, wertschätzend und liebevoll mit unseren Eltern umgehen, die Feiertage einhalten, unseren Nächsten weder bedrücken noch ausrauben – und dazu zähle ich z.B. auch diejenigen, die ihren Wohnraum bei uns im Ort und Landkreis zu überhöhten Preisen dem Landsratsamt für Flüchtlinge vermieten, nicht um zu helfen, sondern um sich daran zu bereichern. Zum Heiligsein gehört auch die pünktliche Gehaltsüberweisung, geduldiger und liebevoller Umgang mit Menschen, die eine Behinderung haben, und immer wieder, dass ich Gott respektieren und achten soll.

Ich soll im Gericht nicht unrecht handeln, also den Geringen nicht vorziehen und den Großen nicht begünstigen. Kann mir mal einer sagen, warum ich gerade an die verschwundenen Akten im Fall CUM-Ex denken muss, die unseren Bundeskanzler belasten sollen, aber aus unerklärlichen Gründen verloren gegangen sind? Oder warum ich gerade auch an solche Prozesse in unserem Ort denken muss, wo alte Menschen, nach fast einem halben Jahrhundert aus ihren Wohnungen in die Obdachlosigkeit hinausgeklagt werden und im schlimmsten Fall dann mit über achtzig Jahren in den Loisachauen unterkommen..

Wir sollen niemanden verleumden. Naja, wenn ich mir so manche Ratscherei anhöre, dürfen wir noch das eine oder andere mehr beherzigen. Aber wir sollen auch keine alternativen Fakten oder Fakenews unter die Menschen bringen. Und da bin ich schon zuweilen erschrocken, wie leichtgläubig mittlerweile mehr als ein Drittel der Menschen in unserem Land sind, die auf die offensichtliche Verleumdungsrhetorik so mancher Politiktreibenden reinfallen. Das sagt am Ende meistens mehr über die Menschen, die reinfallen aus, als über die Menschen, die Verleumdungsrhetorik betreiben.

Wir sollen nicht gegen das Leben unseren Nächsten auftreten. Und auch hier erinnert uns noch einmal Gott daran, dass er der Herr ist.

Wir sollen unsere Geschwister – und damit sind nicht allein die leiblichen Geschwister gemeint – nicht hassen.

Wir sollen unseren Nächsten daran erinnern, was Gott von uns erwartet, wie seine Spielregeln aussehen. Auch das gehört dazu, sich für Gottes Anliegen in dieser Welt einzumischen und einzubringen, um heilig zu sein. Und Gott sagt hier ganz deutlich, dass wir, wenn wir es nicht tun, Schuld auf uns laden. Hier kommen also die berühmten Unterlassungssünden ins Spiel, die wir eben doch nicht so einfach vom Tisch wischen können. Wie gesagt, meine Einladung zur Beichte gilt nach wie vor.

Und jetzt kommt die aus meiner Sicht nahezu größte Herausforderung: Wir sollen uns nicht rächen. Die Rache steht allein Gott zu.

Dazu möchte ich Euch eine kleine Anekdote aus meinem Familienleben erzählen. Ihr kennt ja meine Söhne. Das ist jetzt schon einige Jahre her. Da waren sie noch deutlich kleiner, als es zwischen den beiden kaum noch auszuhalten war. Da meinte meine Frau, dass es Zeit für ein Vater-Söhne-Gespräch sei. Also rief ich jeden von den beiden einzeln zu mir ins Arbeitszimmer und fragte sie, was los sei. Und da erzählt mir dann Justus, dass ihn Johannes immer so ärgern würde, dass er sich rächen müsse. Und da frage ich ihn, was denn Johannes machen würde, wenn er sich gerächt hätte. Sagt Justus, dass sich dann Johannes rächen würde. Und dann sage ich, dass in der Bibel steht: Die Rache sei mein, spricht der Herr. Ob er denn wüsste, was das bedeuten könnte. Natürlich konnten wir damals noch nicht in ein vertieftes theologisches Gespräch einsteigen. Also erkläre ich es ihm: „Gott hat Dich von der Rache befreit. Einzig und allein Gott hat das Recht auf Rache. Er übernimmt für Dich den Job. Also kannst Du das getrost Gott überlassen. Er entscheidet darüber.“ Mein Sohn schaut mich verständig an. Und nun ist Johannes dran. Johannes erzählt mir das gleiche – kein Wunder, sind ja auch eineiige Zwillinge. Also erzähle ich ihm auch das gleiche wie Justus. Nach dem Abendessen kommt Justus noch einmal zu mir und fragt mich: „Papa, wo in der Bibel steht das mit der Rache?“ Und ich antworte ihm: „5. Buch Mose, Kapitel 32, Vers 35.“

Als ich ihm Gute Nacht sagen gehe, zeigt er mir stolz, dass er sich den Bibelvers aufgeschrieben und in einem Bilderrahmen an seinem Schreibtisch an die Wand gehängt hat.

Also, um es James-Bond-Manier zu sagen: Einzig Gott allein hat die Lizenz zur Rache. Und das ist auch gut so, weil Rache von uns ausgeübt, kein Recht schafft, sondern nur neues Unrecht. Und das gilt nicht nur zwischen Völkern und Politikern, sondern auch und unter uns sogenannten einfachen Menschen.

Wir sollen auch keinen Zorn gegen unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger haben, sondern wir sollen unseren Nächsten lieben wie uns selbst. Und auch hier erinnert uns Gott wieder daran, dass er der HERR unser Gott ist.

Und das Ganze gilt natürlich auch für den Fremdling, der hier unter uns wohnt. Auch er ist ein Geschöpf Gottes. Und deshalb sollen wir ihn lieben, wie uns selbst.

Der Fremdling soll wie ein Einheimischer unter uns leben. Das bedeutet, dass er die gleichen Rechte und Pflichten hat. Sprich, alles, was Gott von uns erwartet, gilt auch für ihn und auch ihm gegenüber, damit es ein Miteinander geben kann, ein gemeinschaftliches Leben. Gott erwartet von uns, dass wir aufeinander zugehen, weil wir seine Kinder sind.

Naja, und wie kann man dafür bei Menschen die beste Einsicht erwirken? Genau, wenn man sie an ihre eigenen Erfahrungen erinnert:

„…denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.“

Und wieder kommt eine Erinnerung, die einem Basta gleich:

„Ich bin der Herr, euer Gott.“

Wo sind wir Fremdlinge gewesen? Oder andersrum gefragt: Wer stammt denn wirklich von hier? Wer lebt denn schon seit mehr als drei Generationen hier? Und ich sehe, dass gerade niemand seine Hand hebt aber alle um sich herumschauen und feststellen, dass wir alle Zugereiste sind. Und sind wir als Zugereiste nicht auch irgendwie Fremdlinge? Was lernen wir aus dieser Erfahrung?

Gott will, dass wir heilig sind. Und heilig sind wir, wenn wir Gott von ganzem Herzen und ganzem Gemüt lieben und unseren Nächsten wie uns selbst.

Das ist leichter gesagt als getan. Das hat die lange Wunschliste Gottes an uns Menschen gerade deutlich gemacht. Aber manchmal muss man da noch mal nachfragen, um es wirklich für sich zu verstehen. Und das hat, wie wir heute im Evangelium gehört haben, ein Gesetzeslehrer getan, der Jesus gefragt hat, was er denn tun müsse, um das ewige Leben zu ererben. Jesus hat ihn erst einmal freundlich examiniert. Und rein wissenstechnisch hat der Gesetzeslehrer die Prüfung auch bestanden. Aber zwischen Theorie und Praxis gibt es ja immer so ein kleines Problem, so eine emotionale oder psychologische Barriere. Und so fragte der Gesetzeslehrer nun Jesus, wer denn nun sein Nächster sei. Und da erzählt ihm Jesus die Geschichte vom Barmherzigen Samariter.

Wer ist denn der geschlagene, geschundene, überfallene Mensch? Um welche Themen geht es in dieser Geschichte, der Mustergeschichte zum Thema Liebe und Nächstenliebe?

Es geht in erster Linie um unseren Egoismus, das „Was geht mich das an?“ Es geht um Vorurteile. Was haben denn die Vorübergehenden gedacht?

Und soll ich Euch was sagen? Die Frage ist nicht von Bedeutung, weil sonst Jesus etwas dazu gesagt hätte. Es wird aber deutlich, was der Priester und was der Levit nicht hatten, nämlich Empathie. Sie waren vom Leid des Mannes nicht berührt. Es jammerte sie nicht. Jesus verschwendet kein unnötiges Wort an und über den Priester und Leviten. Es sagt nur, dass es den Samariter jammerte. Damit ist alles über den Priester und den Leviten gesagt. Jesus macht also deutlich, dass ohne Betroffenheit, kein Handeln, kein rettendes Handeln ausgelöst worden wäre.

Und damit weist Jesus auch auf den Mangel in unserer Zeit hin. Wir sind auf dem besten Wege dorthin, eine Gesellschaft ohne Liebe und Empathie und Rücksichtnahme zu werden. Hier nur ein kleines Beispiel, das gestern meine Frau und ich gestern erlebt haben: Wir gingen am Hillenmeyer vorbei – Ihr wisst ja, dass das der Fussgängerweg besonders schmal ist. Und da kommen uns zwei junge Männer mit ihren Rädern entgegen. Zwei tolle geländegängige Luxusräder, vollgepackt mit ihrem Gepäck. Ich gehe nicht aus dem Weg. Die beiden müssen nun stehenbleiben. Und ich schaue den jungen Mann vor mir an und sage, dass das hier ein Fußgängerweg sei. Sagt er zu mir, dass wenn ich jetzt nicht weiterginge, er mir eine klatschen würde. Sage ich: „Das kannst Du gerne machen. Aber dann zeige ich Dich an. Du kannst nicht mit einem Unrecht ein anderes Unrecht wegwischen.“ Meiner Frau wird jetzt die Situation zu heiß und greift deeskalierend ein. Die beiden Männer fahren nun auf der Straße weiter.

Wir sind auf dem besten Wege, eine Gesellschaft ohne Liebe und Empathie und Rücksichtnahme zu werden Und damit sind wir weder heil noch heilig. An den hohen Zustimmungsquoten für die Blauen in unserem Land sehen wir, wie weit wir davon entfernt sind, heilig zu sein und damit dem Wunsch und der Aufforderung Gottes zu entsprechen. Dass das in unserem Land so ist, hat etwas damit zu tun, dass der Priester und der Levit auch in uns noch leben.

Also, wir sind weder heil noch heilig.

Was ist aus dem Vierschritt von Diakonia, Leiturgia, Koinonia und Martyria geworden? Also aus dem Engagement für die Notleidenden, der Feier des Gottesdienstes, der Gemeinschaft und der Bezeugung des Glaubens?

Wenn es uns gelingt, sich für die Notleidenden zu engagieren, weil sie unsere Nächsten sind, und weil Gott unser Herr ist, wenn wir aus der Feier des Gottesdienstes inspiriert, gestärkt, ermuntert und motiviert hinausgehen, weil wir hier Gemeinschaft erlebt haben, ist es Zeit und Auftrag, dass wir diesen Glauben auch draußen in der Welt durch unser Reden und Handeln aktiv bezeugen.

Wenn das alles zusammenkommt, bewegen wir uns in den Bereich des Heils, unserem ganz persönlichen, dem unseres Nächsten und damit auch dem Heil unseres gesellschaftlichen Miteinanders. Im Tun wird unser Glaube bezeugt, den wir im Gottesdienst miteinander feiern. Er vollzieht sich in der Gemeinschaft mit denen, die unsere tätige Liebe brauchen, zu der uns Jesus ermuntert hat und in jedem Gottesdienst auf Neue einlädt.

Lasst uns miteinander, füreinander und für alle da draußen in der Welt mehr Liebe wagen. Denn nur die Liebe, die uns Gott so sehr ans Herz legt, wird dafür sorgen, dass unsere kranke Gesellschaft, unsere kranke Welt und nicht zuletzt unsere kranke Kirche wieder heilen werden. Amen.

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis, 25. August 2024, über 3. Mose 19,1-3.13-18.33-34, Perikopenreihe VI in der Markuskirche zu Farchant und der Johanneskirche zu Partenkirchen

 

Pfarrer Martin Dubberke | Bild: Johannes Dubberke (https://johannes.pictures)
Pfarrer Martin Dubberke | Bild: Johannes Dubberke (https://johannes.pictures)