Ihr Heuchler! - Wie Jesus uns die Augen öffnet

Ihr Heuchler - 12. Sonntag nach Trinitatis
Bildrechte Martin Dubberke

Liebe Geschwister, als ich diesen Text gelesen habe, dachte ich nach den ersten Zeilen. Ach, du meine Güte! Eine Heilungsgeschichte am Sabbat! Was soll ich daraus machen? Wie kann ich darüber predigen? Was soll, was kann uns diese Geschichte heute erzählen?

Und dann stolpere ich über diesen Satz von Jesus:

„Ihr Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke?“
Lukas 13,15

Und mit einem Male wusste ich, worum es gehen würde. Mit einem Male nahm die verkrümmte Frau für mich Gestalt an. Mit einem Male bekam diese Frau für mich ein Gesicht. Sie bekam das Gesicht unserer Welt, unserer Gesellschaft, die unter der Last des Bösen in dieser Welt krumm geworden ist. Sie bekam für mich mit einem Male das Gesicht unserer Kirche, die leidet, die an den Umständen und Verhältnissen dieser Welt leidet, die krank ist, die sich bewegen will, die leben will, aber von alten Vorstellungen, alten Wünschen, Erinnerungen an die sogenannten guten alten Zeiten, die volkskirchlichen Zeiten, die Zeiten der Selbstverständlichkeit, falsch verstandener Tradition erstarrt wird.

„Ihr Heuchler! Helft Ihr nicht Euren Enkelkindern und Kindern, wenn sie krank sind? Geht ihr nicht mit ihnen zum Arzt und tröstet sie?“

So würde Jesus vielleicht heute reden. Wir dürfen dem Vorsteher der Synagoge dankbar sein, dass er sich aus seiner erstarrten Haltung heraus empört hat und zu Jesus und dem Synagogenvolk gesagt hat:

„Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbattag.“
Lukas 13,14b

Das sind nämlich Sätze, die wir alle schon gesprochen haben. Denn Regeln und Traditionen geben uns Sicherheit. Und wehe, jemand bringt da Unruhe hinein und macht etwas anders. Auf unserem Altar liegt z.B. mittlerweile immer wieder eine Altardecke. Das ist gut alte evangelische Tradition. Es ist der Tisch des Herrn und der Tisch des Herrn ist eben gut gedeckt. Das machen wir doch zu Hause auch, wenn wir Besuch bekommen. Wir legen unsere schönste Decke auf den Tisch und dekorieren ihn. Wir stellen unser bestes Geschirr auf den Tisch. Und genauso machen wir es mit dem Altar. Wir stellen schöne Blumen auf ihn, Kerzen, das Kreuz, die Heilige Schrift, eine schöne Altardecke, weil wir uns an der Gegenwart Gottes in unseren Gottesdiensten freuen. Aber da gibt es Menschen, die sagen, dass man vor dreißig Jahren beschlossen habe, keine Decke mehr auf den Altar zu legen, weil das angeblich katholisch sei.

Ich glaube, wir haben ganz andere Probleme in unserer Kirche und auch in unserer Gemeinde. Und genau deshalb bin ich dem Vorsteher der Synagoge so dankbar, dass er sich hier beschwert hat, weil er damit Jesus die Möglichkeit gab, das zu sagen, was er gesagt hat:

„Ihr Heuchler!“

Jesus hat mit zwei Worten deutlich gemacht, worauf es ankommt. Das zu tun, was zu tun ist, um die Not zu wenden, um zu heilen. Und wenn man heilen will, darf man nicht warten, bis es zu spät ist. Jeder, der von uns schon mal krank gewesen ist, wollte doch so schnell wie möglich wieder gesund werden. Und welche Strapazen sind wir bereit auf uns zu nehmen. Ich denke nur an all diejenigen, die z.B. in unserer Gemeinde gerade eine Krebserkrankung haben oder ein neues Knie bekommen haben, und das Ganze nicht so richtig gut gegangen ist. Und jetzt stellt Euch mal vor, was diese Frau durchgemacht hat. Sie war achtzehn Jahre krank. Achtzehn Jahre sind eine verdammt lange Leidenszeit. Meine Söhne sind heute achtzehn Jahre alt. Und dann steht da einer und sagt, weil es ihm ums Prinzip geht, dass man ja noch bis zum nächsten Wochentag hätte warten können. Wie geht es Euch, wenn Ihr für eine wichtige Untersuchung erst in drei Monaten den nächstmöglichen Termin bekommt? Wie regen wir uns dann über das verkorkste Gesundheitssystem in unserem Land auf? Und wenn dann der Arzt anruft und sagt, dass er durch Beziehungen einen früheren Termin bekommen hat, springen wir doch vor Freude in die Luft.

So, und jetzt schaue ich mir noch mal unsere Gemeinde an. Ja, wir haben als Kirche schon eine verdammt lange Leidenszeit hinter uns. Die Menschen werden weniger, die zu uns kommen. Die Menschen, die aus der Kirche austreten, werden immer mehr, weil wir die Menschen nicht mehr mit unserer Botschaft erreichen. Entweder sind wir ihnen zu politisch, zu wenig fromm oder zu fromm, zu konservativ oder zu links. Sie verlassen uns aus vielen Gründen. Uns mögen zwar die Menschen verlassen, aber der liebe Gott verlässt uns nicht. Er bleibt bei uns. Und Jesus Christus will, dass wir uns bewegen. Und deshalb müssen wir uns auch als Kirche bewegen, verändern. Wir müssen auch von alten Vorstellungen loslassen und neue Ziele finden. Das ist das, was vor uns liegt. Wir müssen uns auf den Weg machen und dürfen auch nicht länger mehr warten, weil es sonst zu spät ist. Und die Krankheit hat sich ja angekündigt. Dass die Menschen aus der Kirche austreten, dass das Geld weniger wird, dass immer weniger Menschen den Pfarrberuf erlernen wollen, ist keine Neuigkeit. Das wissen wir seit vierzig Jahren und schon länger. Wir müssen also handeln, weil wir schon so viel Zeit haben verstreichen lassen. Der Handlungsdruck wächst von Tag zu Tag. Und Jesus macht uns deutlich, dass wir auch mal über unsere eigenen Grenzen zu gehen haben, weil nämlich seine Liebe grenzenlos ist.

Wir brauchen ein Ziel. Lasst uns über dieses Ziel miteinander reden. Lasst uns miteinander auf den Weg machen. Es wird ein Weg voller Abenteuer sein. So wie auch der Wanderer in der Alpensinfonie von Richard Strauss, aus der wir heute einen langen Abschnitt gehört haben, auf einem abenteuerlichen Weg mit den unterschiedlichsten Herausforderungen und Gefahren unterwegs gewesen ist. Aber er hatte ein Ziel vor Augen. Als ich heute Morgen um fünf Uhr aufgestanden bin und zur Zugspitze geschaut habe, konnte ich sie in ihrer vollen Schönheit sehen. Eine Stunde später war sie in den Wolken verschwunden. Aber ich wusste, dass die in diesen Wolken zu finden ist. Manchmal lassen uns solche Wolken das Ziel nicht so klar sehen, aber wir wissen, dass es dieses Ziel gibt und wenn wir es erreicht haben, ist es wunderbar. Dann stehen wir auf dem Gipfel und erleben die unbegreifliche Großartigkeit Gottes mit allen Sinnen. Ja, und dieser Weg ist nicht ohne. Er ist nicht ohne Gefahren und Herausforderungen, aber Gott geht an unserer Seite und er geht und voraus, wie er einst den Israeliten als Feuer- und Rauchsäule den Weg gewiesen hat. Und weil er uns führt, dürfen wir uns auf diesen Weg einlassen.

Richard Strauss - Eine Alpensinfonie

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In diesen Tagen hat ein Lied mal wieder so richtig Gänsehaut bei mir ausgelöst: „Mein Ziel“ von Udo Jürgens. Er hat dieses Lied mit 80 Jahren bei seinem letzten Konzert am 7. Dezember 2014 gesungen. Er hat da noch nicht ahnen können, dass er vierzehn Tage später bei einem Spaziergang stirbt. Dieses Lied und auch die Art, wie er es singt, hat mich unheimlich berührt, weil da ein Mann mit achtzig Jahren noch immer in Bewegung ist und nicht erstarrt ist, der immer noch mutig ist, sich auf Veränderung einzulassen. Und dieses Lied will ich Euch jetzt vorspielen:

Udo Jürgens - Mein Ziel

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Habt Ihr gehört, wie die Menschen mitgegangen sind, weil sie genau diese Sehnsucht teilen? Dieser Applaus, dieses großartige Ja zur Freiheit und Liebe? Müssten wir nicht eigentlich auch nach jeder Lesung des Evangeliums stehend applaudieren?

Lasst uns doch die Welt und diese Kirche und uns selbst auf den Kopf stellen!

Es gibt kein Leben aus altem Applaus. Wer rückwärtsgewandt ist, erstarrt zur Salzsäule.

Warum soll uns das Neue erschrecken? Wir haben Jesus an unserer Seite.

Lasst uns versuchen, dreimal täglich Kolumbus zu sein! Ach, lasst es uns wenigstens einmal täglich schaffen. Es gibt wirklich noch so viel zu entdecken!

Lasst uns über unsere Schatten springen!

Lasst uns immer neu beginnen!

Denn das Ziel, das uns Jesus gesteckt hat, ist Freiheit und Liebe.

Wie gut, dass Kirche, dass Gemeinde in Bewegung ist.

Unser Glaube ist das Geilste, was es gibt, weil er uns zur Liebe befreit. Und das ist es, was wirklich zählt.

Amen.

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis, 18. August 2024, über Lukas 13,10-17, Perikopenreihe VI in der Johanneskirche zu Partenkirchen

Pfr. Martin Dubberke
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